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Kraft der Subjektivität

Ist Architekturtheorie mehr als Ideengeschichte und das, was Architekten und Architektinnen zu ihrem Werk zu sagen haben? Achim Hahn – emeritierter Professor für Architekturtheorie an der TU Dresden – forscht seit mehreren Jahren an einem Ansatz, der sich aus subjektiven Erfahrungen und empirischen Erkenntnissen begründen soll. Das Buch Architektur und Lebenspraxis. Für eine phänomenologisch-hermeneutische Architekturtheorie verweigert zwar eine ausformulierte These, bietet aber eine spannende Horizonterweiterung für den theoretischen Diskurs.

 

Text + Fotos: Julian Bruns – 25.1.2019

 

Von 2001 bis zum Sommer 2018 war Achim Hahn Professor für Architekturtheorie und -kritik an der TU Dresden. Zuvor leitete er fünf Jahre die Professur für Soziologie an der Hochschule Anhalt. Er ist Herausgeber der Zeitschrift Ausdruck und Gebrauch sowie Autor mehrerer Theoriebücher. Vor seiner Emeritierung erschien eine Sammlung seiner Aufsätze, die während seiner Lehrtätigkeit in Dresden entstanden sind. Diese sollen «als ‹Zuarbeiten› zu einer erst noch vorzulegenden Wissenschaftstheorie der Architektur» verstanden werden, wie der Autor bereits im Vorwort bekennt. Das Buch bleibt dem Leser also eine abschliessende, umfassende Theorie schuldig, zeigt aber einen interessanten, wenn auch noch unscharfen Ansatz für eine neue auf phänomenologischen Erkenntnissen basierende Architekturtheorie.

 

Gesammelte Schriften
Insgesamt dreizehn Essays sind in drei Themenblöcke eingeteilt. Im ersten werden unterschiedliche Zugänge zur Wahrnehmungsforschung und Geschichte der Phänomenologie erörtert. Es folgen Auseinandersetzungen mit der «eigentlichen Arbeit» der Architektur: dem Entwerfen. Zuletzt gibt es empirische beziehungsweise soziologische Untersuchungen anhand einzelner Fallbeispiele. Trotz einer Überarbeitung der Essays, die mal enger, mal weiter um das Kernthema kreisen, kommt es mehrfach zu Echos in den Argumentationsketten. Die Redundanz kann zwar dem Verständnis dienen, stört aber gleichzeitig auch den Lesefluss. 

 

Warum eine neue Architekturtheorie?
Ausgangspunkt für das Buch ist Hahns Kritik am Status Quo der Architekturtheorie und dessen Lehre. Sie sei nur eine Ideengeschichte der Architektur oder des technischen Fortschritts und vor allem würde sie von Architekturschaffenden, aber auch von Kritikern und Theoretikern hauptsächlich zur Eigenpropaganda und Intellektualisierung verwendet. Ausserdem würden architektonische Zusammenhänge nur noch mittels definitiver Begrifflichkeiten erklärt und nicht anhand wissenschaftlicher oder empirischer Erkenntnisse bewertet. Daher sucht der studierte Kunsthistoriker, Germanist, Architekt und Städtebauer nach einer wissenschaftlichen Basis, um damit die Architektur (wieder) auf die alltäglichen Problemen und Aufgaben der Nutzer zu orientieren. 

 

Vor-wissenschaftliche Grundlagen
Die Phänomenologie ist eine praxisorientierte philosophische Strömung, die sich im zwanzigsten Jahrhundert entwickelt hat. Ihre Anhänger gehen davon aus, dass sich jedes theoretische Konstrukt auf subjektiven Erkenntnissen beruht, die selbst nicht beweisbar sind und keiner allgemeinen Regel unterliegen. «Nur was geschaut ist, gehört in die Phänomenologie», brachte es Wilhelm Schapp, einer der Begründer 1910 auf den Punkt. Wobei «Schauen» das Sehen in naiver, kindlicher, eben vor-wissenschaftlicher Einstellung meint. Begriffe die auch Martin Steinmann häufig verwendet. Der Architekt, Kritiker und ehemalige archithese-Redaktor pflegt ebenfalls einen phänomenologischen Zugang zur Architektur: Das subjektive Empfinden des Menschen im Raum und die Atmosphäre, die das Gebaute evoziert sind für ihn essentiell in der kritischen Betrachtung. Für Hahns Theorie ist die phänomenologische Betrachtung der Nullpunkt, von dem seine Theorie ausgeht: Neben, oder besser gesagt, vor den definitiven Begriffen gibt es ein Wissen, Kennen und Verstehen der Welt des Wohnens und Bauens, das sich aus unserer Lebenserfahrung speist und das nicht weiter hinterfragt oder unterschiedlich interpretiert werden könne. In seiner Theorie soll nun der Zusammenhang beziehungsweise die Verknüpfung von diesem theoretischen / definitiven und dem vor-theoretischen / lebensweltlichen Wissen gesucht werden.

 

Ein neuer Ansatz für ein neues Wissen
Der eigentliche Zweck aller Handlungen sei die Erhaltung des Lebens oder die Verbesserung der Lebensbedingungen, so der emeritierte Professor. Ein Aspekt, der in der vorherrschenden Lesart und Übersetzung der Ur-Architekturtheorie von Vitruvs Zehn Bücher über die Architektur ausgeblendet würde beziehungsweise inexistent sei. Deshalb plädiert der Autor für ein Umschwenken, vor allem in der Lehre, die dafür einen subjektiven Architekten in den Mittelpunkt rücken und das Entwerfen und Planen auf nicht-technische Ziele ausrichten sollte. Dafür wären künftig in der Lehre zwei Wissen notwendig: das empirisch erzeugte, technische Wissen um die fachgerechten Regeln der Herstellung sowie das Wissen um den praktisch-situativen Gebrauch. Klarer wird dies mit den Worten von Jürgen Mittelstraß, einem Philosophen und Wissenschaftstheoretiker: Dieser unterscheidet zwischen «Verfügungs- und Orientierungswissen»Das erste fragt nach dem, was wir tun können (ohne eine kritische Bewertung bezüglich seiner Umsetzung), das andere nach dem, was wir tun sollen. In Hahns Ansatz ist die Differenzierung der beiden Wissen wichtig. Denn Orientierung sei etwas was man tut, nicht etwas was man weiss. Es könne dementsprechend auch nicht «belehrend beigebracht» werden, da es nur durch eigene Erfahrungen entstehen könne. In der Lehre müsste es also künftig mehr um individuelles Wahrnehmen, Deuten und Interpretieren gehen.

 

Die eigentliche Frage bleibt offen.
Hahn schliesst – vereinfacht gesagt – damit, dass (seine) Architekturtheorie eigentlich die Frage nach dem Entstehen eines Entwurfes sei und, dass daher die Kernfrage sein müsste, wie dieses Entstehen untersucht werden kann, damit die Intention der Entwerfenden verständlich wird. Denn durch das Ansprechen von Zwecken und Zielen anderer entstehe auch eine Möglichkeit der Orientierung. Diese Frage bleibt aber wie erwähnt unbeantwortet. Enttäuschenderweise endet hier nämlich das Buch mit der Fussnote, dass man dazu Hahns früheres Buch Architekturtheorie von 2008 ausführlich vergleichen solle. So unbefriedigend dieses offene Ende ist, so unklar manche Aussagen vorerst bleiben, so erfrischend wirkt doch die Aufforderung zu einer neuen empirischen oder subjektiven Architekturtheorie gegenüber dem altbekannten, viel diskutierten Kanon.

Achim Hahns Buch Architektur und Lebenspraxis. Für eine phänomenologisch-hermeneutische Architekurtheorie ist im transcript Verlag erschienen.

 

> Martin Steinmann erhielt 2016 den Prix Meret Oppenheim.

> «Ist die Theorie tot?», fragte Philip Ursprung zum 50. Jubiläum des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur der ETH Zürich im Oktober 2017.

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