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Im Reich der Paragrafen

Das Architekturzentrum Wien widmet sich in der Ausstellung Form folgt Paragraf dem rechtlichen Subtext von Bauen und Stadtentwicklung. Dabei macht es sichtbar, wie stark dass gesetzliche Richtlinien die von uns gestaltete Umwelt prägen.

 

Text: Cyrill Schmidiger – 27.11.2017

 

Durchgeplant
Wie frei und unabhängig von baurechtlichen Normen sind Architekten und Stadtplaner in ihrer Entwurfspraxis? Der Blick auf einen Wohnkomplex mit Spielplatz in Wien zeigt die Situation in Österreich exemplarisch auf. Die Sitzbänke für die Erwachsenen müssen eine bestimmte Distanz zu den Spielgeräten haben, der verwendete Beton muss rutschfest sein und rund um den Spielplatz sind keine Bäume erlaubt, um im Falle eines Brandereignisses kein Feuerwehrfahrzeug zu behindern. Spielgeräte sind zudem so normiert, dass sie hohen Sicherheitsanforderungen genügen: Verbautes Holz darf weder splittern noch scharfe Kanten haben. «Wir beobachten zudem vielerorts eine Entwicklung, in der Eigenverantwortung von Warnhinweisen abgelöst wird», so die drei Kuratorinnen Martina Frühwirth, Karoline Mayer und Katharina Ritter gegenüber ORF.

 

Andere Länder, andere Sitten
Das Az W interessiert sich nicht nur für die Paragrafen in Österreich, sondern geht der Frage nach, wie sich in den verschiedenen Ländern Gesetze und Vorgaben unterscheiden. Anhand von diversen Interviews und Modellen wird in der Schau die aktuelle Situation in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit untersucht. Gleichzeitig interessieren sich die Ausstellungsmacherinnen für das Ausloten der Interpretationsspielräume. Auf mehreren Treppen, die im Museum aufgestellt wurden, kann der Besucher selbst den kulturellen Unterschied zwischen einzelnen Bauten rund um den Globus anhand der genormten Stufen erleben – sei es in Holland oder in Japan. Seitlich der Stiegen sind in weissen Ordnern weitere internationale Vergleiche zum Thema Bauen und Recht zu finden. Wie sieht die englische Brandschutzordnung aus? Wie unterscheiden sich die Mitspracherechte eines Bauvorhabens zwischen Österreich und der Schweiz?

 

Normen hinterfragen
Dass Baugesetze manchmal reine Papiertiger sind, demonstrierten beispielsweise Caramel architekten mit ihrem Projekt CJ5 im Wiener Bezirk Liesing. Sie realisierten auf einem nur 175 Quadratmeter grossen Grundstück, das von der Behörde als «nicht nutzbar» eingestuft worden war, ein Haus mit erstaunlich offenem Charakter. Beispiele, wie Architekten mit, gegen und ohne Gesetz arbeiten, lassen sich auch historisch erfahren: Adolf Loos wusste nämlich mit dem Haus Steiner, wie er die Baubestimmung umgehen konnte, um maximaler Raum zu gewinnen. Weil er strassenseitig das Dachgeschoss als Halbtonne ausführte, konnte der Architekt anstelle der erlaubten zwei annähernd drei Geschosse realisieren. Seit 1829 ist der Umfang der Wiener Bauordnung übrigens von 30 auf 140 Paragrafen mit rund 20 Nebengesetzen angewachsen. Diese Regelwerke haben durchaus ihre Notwendigkeiten, doch sie können auch den Entwurfsprozess massiv einschränken. Spätestens wenn eine Bauidee konkrete Gestalt annehmen will, muss sie sich verschiedensten Gesetzen, Verordnungen und Richtlinien stellen. Hier setzt Angelika Fitz, Direktorin des Az W, an: «Mit dem Blick hinter die Kulissen des Baugeschehens wollen wir eine breite gesellschaftliche Debatte anstossen.»

 

Die Ausstellung Form folgt Paragraph läuft bis zum 4. April 2018 im Architekturzentrum Wien statt.

 

 

> Mit archithese 2.2018 Normen vs. Deregulation erscheint ein Heft, das sich ähnlichen Fragen widmet. Was wäre, wenn Vorschriften im Brandschutz fallen würden? Oder könnten Wohnflächen zugunsten eines breiteren Angebots gemeinschaftlicher Flächen reduziert werden? Erfahren Sie mehr Ende Mai!

> Lesen Sie in archithese 2.2017 Neues Feingefühl einen Aufsatz über einen Umbau von idA architekten, bei dem das Büro Kritik am bestehenden Baugesetz übt.

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