Im Irrgarten der Standards
In wenigen Tagen öffnet die 16. Architekturbiennale von Venedig. Die Kuratoren des Schweizer Pavillons rücken zeitgenössische helvetische Wohninterieurs ins Zentrum. In einer labyrinthischen Installation werden die Besucher eine «unmögliche Wohnung» erleben, die mit verschiedenen Perspektiven, Massstäben und Dimensionen spielt. Im Interview mit archithese sprachen Li Tavor, Alessandro Bosshard, Matthew van der Ploeg und Ani Vihervaara über Potenziale und Probleme von Normen und Standards sowie über die Rolle der architektonischen Repräsentation.
Interview: Cyrill Schmidiger mit Li Tavor / Alessandro Bosshard / Matthew van der Ploeg / Ani Vihervaara – 8.5.2018
Ihr werdet im Schweizer Pavillon eine begehbare Rauminstallation zeigen, die ihr als Haustour bezeichnet. Wie wird sie aussehen? Was werden die Besucher erleben und lernen?
Für unseren Biennale-Beitrag haben wir Fotografien gesammelt, die unmöblierte Wohninnenräume von Schweizer Architekturbüros zeigen. Die dort beobachtete Form der Repräsentation rückt den vermeintlichen Hintergrund des Wohnens in den Vordergrund und hebt die architektonischen Hüllen hervor. Svizzera 240 zelebriert das unentdeckte Potenzial dieser Bilder. Die Installation House Tour ist deren dreidimensionales und begehbares Gegenüber.
Das klingt nach einer positiven Lesung. Wenn man die Fotos anschaut, wirken sie in ihrer Ähnlichkeit und Neutralität jedoch vor allem langweilig.
Das Erscheinungsbild von Wohnungen ist seit Jahrzehnten konstant: Seit Beginn des 20. Jahrhunderts haben die Volumina mehr oder weniger 240 Zentimeter Höhe und sind aus Elementen wie weissen Gipswände, Sockelleisten, Parkett- oder Fliesenböden und standardisiert hergestellten Beschlägen und Armaturen zusammengesetzt. In der Haustour betrachten wir eine Architektur, die nie wegen ihrer eigenen Erscheinung zur Anerkennung gelangte. Wie die weiss gestrichenen Wände von Kunstgalerien oder protestantischen Kirchen haben die Wände einer Wohnung immer versucht, unsere Aufmerksamkeit auf anderes zu lenken als auf sich selbst. Aber jetzt starren wir auf ein Kontinuum weisser Flächen, die durch Türgriffe, Fensterrähmen, Steckdosen und Schranktüren akzentuiert werden. Die Bilder von leeren, unmöblierten Wohnungen sind jedoch in ihrem Wesen eigentlich uninteressant, sie tragen zu wenig eindeutige Informationen in sich. Fehlende massstäblichen Referenzgrössen machen sie schwer quantifizier- und lesbar. Sie stellen mehr Fragen als sie beantworten. Ohne Möblierung steht der Wohninnenraum ausserhalb seiner üblichen architektonischen Legitimierung. Der einst so vertraute Lebensraum beginnt sich zu entfremden und transformiert sich in ein fremdes Territorium.
Doch durch die Schwierigkeit dieses neuen Genres eindeutig zu kommunizieren, zeichnet sich ein neuer Reichtum ab. Das Bild des unmöblierten Wohninterieurs produziert eine breite Palette an Assoziationen und Reaktionen. Die Leichtigkeit, mit der wir eine Wohnung als «standardisiert» oder «neutral» bezeichnen, verrät eben auch ihren Status als willkürliches kulturelles Konstrukt.
Stellt eure Installation die Standards – in der Architektur und der Repräsentation – in Frage? Oder anders formuliert: Was bringt ein neuer Blick auf die neutralen Interieurs?
Die Installation will weder den Status Quo noch das Ideal einer Wohnarchitektur darstellen, sondern die Haustour selbst als Medium benutzen, um das plastische und paradoxe Potential des Wohninnenraums auszuschöpfen und zu übertreiben. Damit kehren wir das übliche Format der Architekturausstellung um: Anstatt ein Gebäude durch Pläne und Modelle zu repräsentieren (oder gar zu versuchen, Repräsentation völlig zu überwinden), bauen wir die Repräsentation selbst. So orientiert sich das Gebilde mehr an Prinzipien der Architekturfotografie als an tatsächlichen Wohnräumen. Die üblicherweise mithilfe des Plans dargestellten zentralen Kriterien wie Dimension und Funktionalität lösen sich zu Gunsten künstlicher und virtueller Prinzipien des architektonischen Bildes auf. Dieses deutet direkt auf die architektonische Plastizität unserer wichtigsten Lebensräume hin. Im Schweizer Pavillon betritt das Publikum eine unmögliche Wohnung. Das Unvermögen der Fotografie Massstab, Dimension, Tiefe oder räumliche Nähe zu vermitteln, wurde in den Pavillon hineingebaut und erzeugt ein Labyrinth an Innenraumperspektiven. Die Räume bewegen sich zwischen den unterschiedlichsten Massstäben, denn die Zuverlässigkeit des 1:1-Modells wurde zugunsten einer Serie von funktionslosen Massstäben verworfen.
Auf der Tour durch diese fremde Landschaft können wir uns vordefinierten Rollen entziehen. Wir sind keine Bewohner, Architektinnen oder Bauherren, sondern verwandeln uns in ein neues architektonisches Subjekt: Wir sind Haustouristen. Wir richten unseren Blick auf Dinge, die uns bekannter nicht sein könnten und trotzdem fremd wirken. Der naive und subjektive touristische Blick ermöglicht dabei fehlerhafte Interpretationen sowie alternative und uneindeutige Lesearten.
Wird es neben der Rauminstallation andere Formen der Präsentation geben?
Im Pavillon wird ein Gratiskatalog mit Texten und einigen der angesprochenen Fotos im Taschenformat aufliegen. Zudem erscheint eine umfassende Publikation bei Park Books.
Wir sind gespannt. Am 1. Juni erscheint archithese 2.2018 Wohnungsbau. Darin werden wir ebenfalls den state of the art untersuchen und weiterführende Fragen stellen. Hoffentlich enstpinnt sich ein spannender Dialog mit eurer Installation. Unsere Autoren stehen der Neutralität und der Konsistenz bei den Typologien aber meist kritisch gegenüber. Wie positioniert ihr euch selbst dazu?
Die Architektur in diesen Bildern als gut oder schlecht zu bewerten, war nicht unser Ziel. Wir sind schlicht und einfach fasziniert von ihnen. Wir möchten herausfinden, was die versteckte Logik hinter dem zeitgenössischen Wohninterieur ist und wie wir ein Vokabular dafür entwickeln können. Der Fokus auf das innere Erscheinungsbild der Wohnung scheint zugegebenermassen zunächst absurd. Das Wohninterieur wird häufig als «Hintergrundarchitektur» bezeichnet, als eine vermeintlich neutrale Kulisse, die ihren Bewohnern maximale ästhetische und programmatische Freiheit gewähren soll. Es ist eine Architektur, deren Leistungsfähigkeit auf der aktiven Unterdrückung ihrer eigenen Erscheinung beruht. In diesem Sinne sollten Fotografien von unmöblierten Wohninterieurs gar nicht existieren.
Doch gerade dieser Widerspruch macht die vielen Fotografien unmöblierter Wohninnenräume in Zeitschriften, auf Homepages und in anderen Architekturmedien faszinierend. Für uns sind sie architektonische Rorschachtests. Sie werfen Fragen auf und wecken Spekulationen über die Beziehung der Gesellschaft zu ihren eigenen «vier Wänden».
Die Bilder scheinen ja zunächst von Standardisierung in der Architektur zu sprechen. Doch viel wichtiger scheint uns, dass sie bei näherer Betrachtung fundamentale architektonische Prinzipien im Wohnungsbau sichtbar machen und in ihrer Gesamtheit theoretische Grundsätze neu zu formulieren vermögen. Indem das Bild unmöblierter Innenräume mit dem Grundriss gleichgestellt wird, verhandelt es die Beziehung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit neu. Fassaden wandern von Aussen nach Innen und die architektonische Struktur wird abgelöst von einer universalen, uns alle umgebenden plastischen Oberfläche.
Habt ihr versucht auf das übergeordnete Motto der Biennale Freespace Bezug zu nehmen?
Unser Beitrag argumentiert, dass die Relevanz der Architektur nicht nur in ihrer Fähigkeit liegt, grosszügige Räume zu bauen, sondern auch darin, Repräsentation zu konstruieren. Es geht uns um alternative Lesearten des Kanons, die zu neuen Erkenntnissen führen könnten. Wir glauben daran, dass die Art und Weise, wie wir etwas sehen, unser Denken beeinflussen kann. Das wiederum wirkt sich auch auf unser Handeln aus. In diesem Sinn fragen wir in unserem Beitrag nicht: «Was zeigt die Haustour?», sondern «Was macht die Haustour?»
Die 16. Internationale Architekturbiennale in Venedig wird am 26. Mai eröffnet und dauert bis zum 25. November 2018.
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