Europa im ökonomischen Belagerungszustand
Die ökonomische Krise und ihr technokratisches Management hat ein Europa der Gewinner und Verlierer hervorgebracht. Die Basis dafür schufen die Gründungsväter der Europäischen Union unter dem Label der sozialen Marktwirtschaft – die wirtschaftliche Zusammenarbeit als Voraussetzung für politische Stabilität und soziale Gerechtigkeit proklamierte –, mit einem ordoliberalen Verfassungsprojekt, dessen Defizite immer offensichtlicher werden. Die Frage nach der Sozialstaatsverfassung Europas ist vor diesem Hintergrund drängender denn je.
Autor: Hauke Brunkhorst – erschienen in archithese 6.2014 Die Architektur Europas – Fresh Europe, S. 36–43.
Europa ist seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957 ein ursprünglich ordoliberales Verfassungsprojekt, in dem das leere Versprechen der Ich-AG – «Jedermann eine Firma » und «Alle Firmen sind gleich» – als konstitutionelle Hegemonie der Unternehmerinteressen umgesetzt und seit den späten Siebzigerjahren neoliberal radikalisiert wurde. Während die Ordoliberalen gerne ihre nationale, deutsch-österreichische Differenz zum amerikanischen Neoliberalismus der Chicago-Schule betonen und ihr Projekt unter dem in der Nachkriegsära beliebten Label des dritten Wegs der sozialen Marktwirtschaft – angesiedelt zwischen Kapitalismus und Sozialismus – verkaufen, sind die wirklichen Unterschiede gering und eher ideologischer Natur.1, 2
In der Folge ist es ihnen gelungen, nicht nur wesentliche Teile des Europarechts den europäischen und nationalen Exekutiven zu entziehen, sondern darüber hinaus auch die nationale und transnationale Souveränität auszuhebeln.
Marktradikale Entscheide des Europäischen Gerichtshofs
Die lange Serie marktradikaler Urteile des EuGH beginnt mit der Rechtssache Dassonville. Dabei ging es um eine belgische Handelsbeschränkung für schottischen Whisky, der über eine Zwischenstation in Frankreich aus dem EU-Raum nach Belgien importiert worden war.3 Der Gerichtshof hob die Beschränkung im Namen der Warenverkehrsfreiheit auf. Es folgen – um nur die wichtigsten zu nennen – Cassis de Dijon (1979) und Keck & Mithouard (1993) – die «Novemberrevolution des Europäischen Gerichtshofs» –, in der den Gliedstaaten und ihrer Union entschädigungslos alle handelsbeschränkenden Massnahmen verboten wurden. Bei Cassis de Dijon ging es um ein deutsches Verkaufsverbot für französischen Johannisbeerlikör, dessen Alkoholgehalt unter dem vom deutschen Branntweinmonopolgesetz vorgeschriebenen Alkoholgehalt lag. Mit Keck & Mithouard wurde ein Verbot des Gesetzgebers, Waren unter dem Einkaufspreis zu verkaufen, aufgehoben mit der Begründung, dass die EU-Nachbarländer keine solchen Verbote kannten. Damit war der vom Gerichtshof in einer berühmten Entscheidung schon Anfang der Sechzigerjahre postulierte Vorrang europäischen Rechts über entgegenstehendes nationales einfaches und Verfassungsrecht erfolgreich konsolidiert.4 In den folgenden Jahrzehnten versank die gegenläufige, sozial oft erstaunlich progressive Rechtsprechung des EuGH wie eine Träne im Meer der Marktwirtschaft.
Den vorläufigen End- und Höhepunkt bilden Urteile, die es verdient haben, als ein veritables Stück Klassenjustiz im kollektiven Gedächtnis haften zu bleiben. Das sind vor allem die Urteile Viking (2007), Laval (2008) und Herron (2013).5 Indem das Gericht in den ersten beiden Urteilen der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit Vorrang vor der gewerkschaftlichen Aktionsfreiheit und dem Streikrecht einräumt, stellt es das sozialstaatlich habitualisierte Grundrechtsverständnis auf den Kopf. Statt die Freiheit der Märkte durch Grundrechte einzuschränken, soll diese fortan die Grenzen des Grundrechtsschutzes bestimmen. Das Sahnehäubchen für die grundrechtsbrechende Freiheit der Märkte ist das Herron-Urteil von 2013: Wer einen Betrieb kauft – freundlich oder feindlich übernimmt –, hebt damit auch gleich den Tarifvertrag auf, der nicht nur in Deutschland eine gesetzesartige Form hat. Bürgerliche Vertragsfreiheit bricht die gesellschaftliche Selbstgesetzgebung im institutionalisierten Klassenkampf, also die Tarifautonomie.6
Ein Immunsystem für die Marktwirtschaft
Das Verfassungsziel, das bei allen Unterschieden Ordo- und Neoliberale doch eint, ist eine entpolitisierte Gemeinschaft ohne Gesetzgeber und Regierung. Unter der Herrschaft der Rechtsprechung sollen alle wichtigen Fragen von ihr allein beantwortet werden.7 Auf diese Weise soll sich das Recht aus einem – nach dem deutschen Soziologen und Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann – «Immunsystem der Gesellschaft» in ein «Immunsystem der Marktwirtschaft» zurückverwandeln. Der Erfolg blieb nicht aus. Der wilde Investitionsstreik wurde in Europa und überall auf der Welt zur Regel, der Streik arbeitender Belegschaften zur immer selteneren Ausnahme. – Recht auf dem Papier.
Aber die Rechnung der Ordo- und Neoliberalen wurde dennoch ohne das Recht gemacht. Zumindest ein Moment des Kantian constitutional mindset – der Einrichtung einer Republik gleicher und freier Bürger nach Hauke Brunkhorts – setzte sich als Widerstand im managerial mindset von Rechtsexperten und Berufspolitikern fest und konnte allen Versuchen, es zu eliminieren, trotzen.8 Noch im selben Atemzug, in dem die Europäischen Verfassungsrichter Anfang der Sechzigerjahre dem big money zu Siegen über den nationalen Sozialstaat verhalfen – im Urteil van Gend & Loos hatte ein Grossunternehmer 1963 erfolgreich gegen Erhebung einer holländischen Steuer, in Costa / E.N.E.L 1964 ein italienischer Grossaktionär gegen die Verstaatlichung eines Energiekonzerns geklagt –, haben sie – in kühner, teleologischer Auslegung der Verträge – eine europäische Bürgerschaft kreiert und ihr damit in nuce den Status eines autonomen, transnationalen pouvoir constituant zugeschrieben.9 Daraus wurde dank grauer Ausschussarbeit, berufspolitischem Management und professionalisiertem Recht schliesslich eine veritable politische Verfassung, deren parlamentarische Krone das ordentliche Gesetzgebungsverfahren ist.10
Konstitutionalisierung und der Verlust nationaler und transnationaler demokratischer Legislativgewalt
Die negative Dialektik des «grossen Fortschritts» (Karl Marx) der damit vollzogenen und irreversibel gemachten Konstitutionalisierung der Europäischen Verträge besteht – kurz gesagt – darin, dass diese neben erst impliziten, dann expliziten Grundrechten und «Normerzeugungsregeln » (nach dem österreichischen Rechtswissenschaftler Hans Kelsen) auch jede Menge änderungsfester, inhaltlicher Vorgaben enthalten, die nicht in die Verfassung, sondern – in einer Verfassungsordnung – in die einfache ( Parlamentsoder Volks-) Gesetzgebung gehören.11 Nur deshalb sind die Verträge so lang. Sie entziehen – wie eingangs erwähnt – wesentliche Teile des Europarechts der nationalen und der europäischen Gesetzgebung und errichten, da sie seine Änderung an den einstimmigen Beschluss aller Gliedstaaten binden, eine Änderungsschwelle, die weit höher liegt als die qualifizierte Mehrheit oder die einfache Mehrheit eines Referendums, wie sie für nationale Verfassungsänderungen üblich sind. Der politische, ja emanzipatorische Doppelcharakter nationaler und transnationaler Souveränität wird auch und vielleicht vor allem durch die latent autoritäre Metamorphose einfachen, parlamentarischen Rechts in höheres Verfassungsrecht aufgehoben. Jeder weitere Gewinn solcher Konstitutionalisierung einfachen Rechts ist ein doppelter, nationaler wie transnationaler Verlust demokratischer Legislativgewalt: «In many domains», so der Professor für Europäisches Recht und Gouvernance Mark Dawson und der Wirtschafts- und Rechtswissenschaftler Floris de Witte, «the policy preferences of the Union are constitutionally entrenched. Examples abound: monetary policy is geared towards ‘prize stability’ instead of ‘full employment’, energy policy focuses on competitiveness and energy security instead of democratic access, non-discrimination policy fosters labour market access over dignity in the workplace, the Court’s interpretation of Article 125 TFEU entails that financial assistance must be based on conditionality instead of solidarity, the excessive deficit procedure prefers austerity over Keynesian solutions, and the free movement provisions themselves already express a very particular understanding of the interaction between state and market.»12
Trotzdem wurde das Europäische Parlament innerhalb des europäischen Institutionengefüges zu einem mächtigen Arbeitsparlament – eher dem Amerikanischen Repräsentantenhaus vergleichbar als den gubernativ bestimmten talking- parliaments von Westminster und Berlin.13 Faktisch hat es in gemeineuropäischen Fragen viel mehr Macht als die von der jeweiligen Regierung entwaffneten nationalen Parlamente.
Bonapartismus 2.0 – die autoritäre Demokratie
Aber das Parlament bleibt, bis jetzt jedenfalls, öffentlich unsichtbar. Es war, wenigstens bis gestern, ein Parlament des öffentlichen Rechts, aber kein Parlament der öffentlichen Meinung, und auch deshalb blieb es im Schatten des kollektiven Bonapartismus light, dem sogenannten Bonapartismus 2.0, der einen demokratisch verkleideten autoritären Regierungsstil beschreibt, und den der allmächtige Europäische Rat ausübt. Ein für nationale Aussenpolitik demokratisch legitimierter Rat, der europäische Innenpolitik macht: als Sonderregime mit Sondergesetzgebung und mit bestenfalls halbdemokratischer Legitimation.14
Es ist wichtig, zu verstehen, wie dieser Modus technokratischer Politik funktioniert, um seine Grenzen zu erkennen. Der in den Verträgen konstitutionalisierte Weg Europas zur «immer engeren» Vereinigung (EUV Art I, Abs. 2) war das Erfolgsmodell eines engen Zusammenspiels technokratischer Politik und professionellen Rechts. Dieses Zusammenspiel hat eine europäische Schicksalsgemeinschaft von einer funktionalen Dichte geschaffen, deren Auflösung – so der deutsche Rechtswissenschaftler Fritz Scharpf schon 1996 – nicht nur das «Ende der Union bedeuten, sondern auch die europäische Wirtschaft geradewegs in die Katastrophe stürzen müsste.» 15
Das erfolgreiche Miteinander von Rechtstechnik und technischer Politik, das die ursprüngliche Wirtschaftsverfassung erst um eine Rechtsstaats- und dann um eine politische Verfassung ergänzt hat, besteht darin, alle strukturellen, sozialen Konflikte und politischen Richtungsentscheidungen im Institutionensystem der EU zu invisibilisieren. Politische Entscheidungen ( policies ) werden zu Entscheidungen ohne Politik ( politics ).16 Die gesamte institutionelle Balance zwischen Europäischem Rat, der Euro-Gruppe jahrzehnteund der Kommission, dem Rat der Europäischen Union und der Europäischen Zentralbank ist auf Konfliktvermeidung und Konsens, Integration und Invisibilisierung europäischer Entscheidungen programmiert:
«[T]he [macro-economic] choices are taken in an institutional setting that provides near-perfect protection against the interference of input-oriented political processes and of democratic accountability in the constituencies affected».17
Chancen einer Repolitisierung
Inzwischen ist die lange latent gehaltene Legitimationskrise manifest geworden. Die ökonomische Krise des Kontinents macht die Frage nach der Sozialstaatsverfassung Europas unabweisbar.18 Die ökonomische Krise und ihr technokratisches Management hat ein Europa der Gewinner und Verlierer geschaffen, das nicht nur den strukturellen Konflikt zwischen Nord- und Südstaaten, sondern auch den zwischen den Bürgern und sozialen Klassen in den Nationalstaaten und in der EU einer jeden und einem jeden erkennbar macht.19 Die Krise hat die Balance entpolitisierter Politik irreparabel beschädigt.20
Die technokratische Beschränkung auf reine Output-Legitimation (die Rechtfertigung eines Staates für dein Handeln, die hier auf dem funktionalen Prinzip der Nützlichkeit der Akteure fusst) treibt die Union – ob ihre politisch-ökonomische Klasse das will oder nicht – immer tiefer in die Krise hinein. Da mit reiner Output-Legitimation keine auch noch so geringe Umverteilung öffentlich zugestanden werden kann, gibt es nur noch eine Lösung: die fortschreitende Konstitutionaliserung der Austeritätspolitik (Schuldenbremse, Wettbewerbsfähigkeit als oberstes Staats- und Unionsziel), Konsolidierung der Staatshaushalte durch Schrumpfung der Sozial- und Infrastrukturausgaben, betriebswirtschaftliche Arbeitsmarktreformen, Absenkung der Sozialleistungen und Infrastrukturinvestitionen, von der Umwelt ganz zu schweigen. Austerität wurde nach einer kurzen Zeit des Notstandskeynesianismus 2008 spätestens 2010 alternativlos.21
Die Folge davon sind sinkende Wahlbeteiligung in den unteren Klassen der Gesellschaft und steigende Wahlbeteiligung ganz oben.22 Von Wahl zu Wahl rücken die Parteien, um noch im Spiel zu bleiben, immer weiter von links nach rechts. Unten wollen die nicht mehr wählenden Mehrheiten nach wie vor die sozialistische Agenda.23 Aber es ist keine Partei mehr da, die sie vertritt. Oben sind alle Wähler an den Urnen, und alle wählen die neoliberale Agenda der immer enger vereinigten Einheitspartei der kapitalistischen Postdemokratie.
Der einzige Weg zur Überwindung des doppelten, gleichermassen nationalen wie transnationalen Demokratiedefizits, der in dieser Lage noch offen, aber ebenso ungewiss ist, führt über die Internalisierung des Legitimationspotenzials struktureller, sozialer und politischer Konflikte. Die herrschende Gewaltenteilung undemokratischer Konfliktvermeidung muss in eine überall in Europa sicht- und hörbare demokratische Gewaltenteilung des Konflikts verwandelt werden – Kontestation statt Konsens.24
Keine politische Repräsentation ohne Negation. Keine Demokratie ohne «Politisierung ausgetrockneter Öffentlichkeiten».25 Demokratie gibt es nur, wo die endlose Menge alltäglichen Nein-Sagens die Selektionsschwellen der «Bewusstseins- und Bedürfnisindustrie» (nach dem Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger und dem Eurokritiker Wolfgang Streeck) passieren und zur öffentlich hör- und fühlbaren Negation des Bestehenden verdichtet, damit es institutionell dargestellt und politisch entschieden werden kann. Nur noch durch eine Öffnung der Verfassung Europas für politische, soziale, ökonomische und kulturelle Alternativen lassen sich die im Zuge der Europäisierung und Globalisierung des Kapitals verlorenen Alternativspielräume nicht nur der transnationalen, sondern auch der nationalen Politik zurückgewinnen.
Die Alternative zur Konstitutionalisierung rechter, ordo- und neoliberaler Wirtschaftspolitik und Wirtschaftstheorie ist nicht die Konstitutionalisierung eines linken, gegenhegemonialen Parteiprogramms und seiner Grundwerte, sondern die transnationale Re-Konstitutionaliserung des Gegensatzes von links und rechts.26 Grundlegende gesellschaftspolitische Alternativen müssen im ganzen Spektrum zwischen links und rechts wähl- und diskutierbar bleiben, sonst gibt es keine Demokratie, sondern nur deren falschen Schein. Genau davor hat der Rechts- und Politikwissenschaftler Fritz Scharpf schon im Vorfeld der Bundestagswahl im Jahr 1998 gewarnt, die Gerhard Schröder zum Kanzler gemacht und – im Rückblick – das sozialdemokratische Zeitalter beendet hat:
«Wenn aber tatsächlich – um einen Ausdruck des niedersächsischen Ministerpräsidenten [das war damals Gerhard Schröder; Anm. d. A.] zu zitieren – moderne Wirtschaftspolitik nur noch auf Deregulierung, Flexibilisierung und Kostensenkung hinauslaufen kann, dann hat auch die Demokratie ihre Funktion verloren, Akzeptanz für Wahlhandlungen der Politik zu sichern, die so oder auch anders getroffen werden könnten. Dann läuft der demokratische Betrieb leer, degeneriert zum Medienspektakel ohne legitimierende Bedeutung. Eine solche Politik kann auch nicht mehr auf die Folgebereitschaft ihrer Bürger rechnen.» 27
Perspektiven für Europa?
Als erstes muss die institutionalisierte Blockade von Alternativen durch Verwandlung einfachen Rechts in Verfassungsrecht überwunden werden. Schuldenbremsen, die Europa und seine Nationen vorab auf eine bestimmte, akademisch höchst strittige Wirtschaftstheorie, jahrzehnte lange Austerität und die universelle Herrschaft des Wettbewerbskommissars festlegen, gehören nicht in die Verfassung, sondern in den öffentlich strittigen, jederzeit mit einfacher Mehrheit korrigierbaren Prozess demokratischer Willensbildung.28
Der ganze Prozess fortschreitender Konstitutionalisierung muss umgekehrt, von Quantität in Qualität zurückverwandelt und im nationalen wie internationalen Recht auf den Kernbereich demokratischer Verfassungen – die Verschränkung von Normerzeugungsregeln und Grundrechten – begrenzt werden.29
Laut der Quintessenz der Verfassungstheorien von James Madison (Gründungsvater und 4. Präsident der Vereinigten Staaten) und Emmanuel Joseph Sieyès (Priester und Haupttheoretiker der Französischen Revolution) über Karl Marx’ 18. Brumaire (Marx analysiert darin den Verlauf des Staatstreichs von Louis Napoleon in Frankreich 1851) bis zu Hannah Arendt oder Jürgen Habermas sind Parlamente jedoch ohnmächtig ohne den permanenten Druck und die massive Rückendeckung einer politisch aktiven und im Zweifelsfall « kampfbereiten » Öffentlichkeit. Das aber erfordert in Zeiten grotesk wachsender sozialer Ungleichheit eine heute noch utopisch anmutende, aber alternativlose Transnationalisierung des demokratischen Klassenkampfes. Es bedarf nicht nur einer effektiven « Europäisierung der Europawahlen » durch « Gründung echter europäischer Parteien »,30 sondern auch vorrangig der Bildung europäischer Gewerkschaften, die stark genug sind, um dem üblich gewordenen transnationalen Investitionsstreik wenigstens die Möglichkeit transnationaler Streiks abhängig Beschäftigter entgegensetzen zu können.
Die sozialpsychologischen Voraussetzungen dafür sind seit Ausbruch der Krise im Jahr 2008 gar nicht so schlecht. Polarisierung ist möglich, und Polarisierung politisiert.31 Immerhin teilt eine Arbeitslose aus Athen mit ihrer arbeitslosen Kollegin in Bochum weit mehr ideelle und materielle Interessen als mit dem griechischen Grossreeder, der das Land auf der Flucht vor der Steuerfahndung verlassen und das Kapital, das er dem Investitionskreislauf entzieht, der global operierenden Bank der Nordstaaten anvertraut hat, die seinen Milliarden grossmütig Asyl gewährt.32 Seit Ausbruch der Krise im Jahr 2008 sind die Europäer denn auch mit erstaunlich grossen Mehrheiten für soziale (70 Prozent) und politische (57 Prozent) Gleichheit. Ihre Bereitschaft zu gegenseitiger Hilfe und zur Teilung des Reichtums ist sehr hoch. Sie verstehen sich mittlerweile selbst als europäische Bürger.33 Es gibt in der EU heute bereits – so die Studie des deutschen Sozialwissenschaftlers Jürgen Gerhards und des Soziologen Holger Lengfeld – eine «belastungsresistente Form der Sozialintegration ». Die transnationale «Solidaritätsbereitschaft» der Europäer, so fassen die Autoren ihre Ergebnisse zusammen, «ist weit grösser als in der öffentlichen Debatte angenommen».34
Erstaunlich ist vor allem, dass sich eine überwältigende, verfassungsbrechende Mehrheit für einen einheitlichen Mindestlohn in ganz Europa stark macht. Die Bewohner der reichen Länder sind sogar bereit, dafür Wohlstandsverluste hinzunehmen. In Polen sind 83,7 Prozent, in Deutschland immerhin noch 58,1 Prozent, in Spanien 75,2 Prozent und auch in der Türkei 70,2 Prozent dafür, dass es «einen einheitlichen Mindestlohn in Europa» gibt, «auch wenn in den reicheren Ländern dann manche für deutlich weniger Geld arbeiten müssten».35 Fehlen nur noch die Gewerkschaften der besserverdienenden Lohnabhängigen, die sich bislang bedeckt halten. Gerade im Hochlohnbereich metallverarbeitender Industrien könnte man nicht nur in Deutschland zeitweilige Lohneinbussen gegen sehr realistische Wachstumschancen eintauschen, weil bei einheitlichem Mindestlohn niemand mehr in Europa Marktöffnung als Wohlstandsbedrohung fürchten müsste.
Die EU kann nur dann zu einem wirklich demokratischen Vereinigungsprojekt werden, wenn der Kampf um die Erzeugungsbedingungen sozialer Differenzierung wieder an die Stelle des tödlichen Wettbewerbs der Nationen um immer mehr Steuervorteile tritt – wofür die EU ironischerweise auch noch mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.36 Wenn die seit fast vierzig Jahren im oberen Segment wachsende Erpressungsmacht der globalisierten Wirtschaft durch eine auch nur annähernd vergleichbare Erpressungsmacht von unten wenigstens ausgeglichen werden soll, muss die Macht der lohnabhängigen Mehrheitsbevölkerung und ihrer noch vorhandenen Gewerkschaften transnational nachziehen.37 Denn ohne kapitalorientierte und andere Formen demokratischen Klassenkampfes haben politische Eliten und Parlamente heute einfach nicht die nötige «Erpressungsmacht», um dem Druck der Investoren und deren sehr realistischer Streikdrohung zu widerstehen.
Hauke Brunkhorst beschäftigt sich vor allem mit Fragen der politischen Theorie und Praxis und steht dabei in der Tradition der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Er studierte Deutsche Literaturwissenschaft, Philosophie, Erziehungswissenschaft und Soziologie, forschte an den Universitäten Frankfurt, Göttingen und Konstanz und habilitierte für die Fächer Erziehungswissenschaften und Soziologie. Hauke Brunkhorst hatte mehrere Gastprofessuren und Professuren inne, unter anderem in Kassel ( Soziologie ), Berlin (Politische Theorie), Duisburg ( Politische Theorie ) und Frankfurt ( Soziologie, Philosophie ) sowie in Wien ( 1985 und 2002 ), Aarhus ( 1998 ) und Aberystwyth ( 2007). Seit 1996 lehrt Brunkhorst Soziologie als Professor an der Universität Flensburg, wo er auch als Direktor des Instituts für Soziologie sowie als Studiendirektor des International Institute of Management tätig ist.
1 Der Ordoliberalismus vertritt eine marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung, in der ein durch den Staat geschaffener Ordnungsrahmen den ökonomischen Wettbewerb und die Freiheit der Bürger auf dem Markt gewährleisten soll. Das Konzept des Ordoliberalismus wurde von den Vertretern der Freiburger Schule der Nationalökonomie entwickelt, die im jungkonservativen Milieu der Weimarer Republik grossgeworden sind.
2 Vgl. Hauke Brunkhorst, Das doppelte Gesicht Europas – Zwischen Kapitalismus und Demokratie, Berlin 2014, S. 20ff, 60ff.
3 Im Folgenden spreche ich durchgängig von EU beziehungsweise Europäischer Union, auch wenn diese zunächst als Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957 in Rom gegründet, dann – in den Verträgen von Maastricht und Amsterdam – zur Gemeinschaft sans phrase (EG) und schliesslich im Vertrag von Lissabon zur politischen Union (EU) promoviert wurde.
4 Norbert Reich, « ‹The November Revolution› of the European Court of Justice», in: Common Market Law Review Nr. 31/1994, S. 459 – 492.
5 Vgl. Martin Höpner, « Social Europe ? The European Project after Viking and Laval», in: Magazin Mitbestimmung Nr. 5/2008; Sonja Buckel / Lukas Oberndorfer, « Die lange Inkubationszeit des Wettbewerbs der Rechtsordnungen – Eine Genealogie der Rechtsfälle Viking / Laval/Rüffert / Luxemburg aus der Perspektive einer materialistischen Europarechtstheorie », in: Europäische Gesellschaftsverfassung. Zur Konstitutionalisierung sozialer Demokratie in Europa, herausgegeben von Andreas Fischer-Lescano, Florian Rödl und Christoph Schmid, Baden-Baden 2009, S. 277–296; vgl. auch Martin Höpner, « Soziale Demokratie ? Die politökonomische Heterogenität Europas als Determinante des demokratischen und sozialen Potenzials der EU», in: Europarecht, Beiheft 1 / 2013, S. 69–89, hier S. 77ff.; Alexander Somek, «Sozialpolitik in Europa: Von der Domestizierung zur Entwaffnung», in: Europarecht, Beiheft 1/2013, S. 49–68, hier: S. 64ff.
6 Zum institutionalisierten Klassenkampf vgl. Dietrich Hoss, Der institutionalisierte Klassenkampf, Frankfurt 1972.
7 Ernst-Joachim Mestmäcker, Einführung zu: Franz Böhm [1933], Wettbewerb und Monopolkampf. Eine Untersuchung zur Frage des wirtschaftlichen Kampfrechts und zur Frage der rechtlichen Struktur der geltenden Wirtschaftsordnung, Baden-Baden 2010, S. 5–14, hier: S. 9.
8 Brunkhorst, a.a.O. 2014, S. 70–110.
9 Zu letzterem siehe Peter Niesen, «Constituent Authority Unbound. Challenges for the Legitimate Exercise of Constituent Power in Unbound Constitutionalisation», Ms. 2014; Markus Patberg, Constituent Power Beyond the State. An Emerging Debate in International Political Theory, 2014 (im Erscheinen).
10 Zusammenfassend siehe Brunkhorst, a.a.O. 2014, S. 111ff. Treffend, aber mit viel zu defensivem Titel: Dieter Grimm, «Die Stärke der EU liegt in einer klugen Begrenzung», in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. August 2014, Nr. 184, S. 11.
11 Mark Dawson / Floris de Witte, From Balance to Conflict: A new Constitution for the EU, Ms 2014, S. 1–28, hier S. 19.
12 Philipp Dann, «Looking through the federal lens: The semiparliamentary democracy of the EU» (Jean Monnet Working Paper 05/02), New York NYU School of Law 2002; Philipp Dann, «The political institutions», in: Armin von Bogdandy / Jürgen Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, Berlin 2009, S. 229–279, S. 245 ff.
13 Hauke Brunkhorst, « Kollektiver Bonapartismus ? », in: Blätter für deutsche und internationale Politik (Hrsg.) Demokratie oder Kapitalismus ? Europa in der Krise, Berlin 2013, S. 241–250. Zur Technik der Sonderregimes siehe Jürgen Bast, « Einheit und Differenzierung der Europäischen Verfassung», in: Yvonne Becker u.a. ( Hrsg. ), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, Baden-Baden 2005, S. 34–60, hier S. 44.
14 Fritz Scharpf, « Demokratische Politik in Europ », in: Zur Neuordnung der Europäischen Union. Die Regierungskonferenz 1996 / 97, herausgegeben von Dieter Grimm, Joachim Jens Hesse, Reimut Jochimsen und Fritz Scharpf, Baden-Baden 1997, S. 65–91, hier S. 82.
15 Vgl. Dawson /Witte, a.a.O. 2014.
16 Fritz Scharpf, « Political Legitimacy in a Non-optimal Currency Area », in: O. Cramme / S. Hobolt ( Hrsg. ), Democratic Politics in a European Union under Stress, 23. Verfügbar unter http://www.mpifg.de/pu/mpifg_dp/dp13-15.pdf ( letzter Zugang: 12.7.2014 ).
17 Vgl. Brunkhorst, a.a.O. 2014, S. 112ff., 143ff.
18 Claus Offe, « Europe entrapped. Does the EU have the political capacity to overcome its current crisis ? », in: European Law Journal Nr. 19 / 5 2013, S. 595–611.
19 Dawson / Witte, a.a.O. 2014, S. 3f, S. 17.
20 Vgl. ebd., S. 15f.
21 Hierzu und zum Folgenden: Armin Schäfer, « Liberalization, inequality and democracy’s discontent », in: Politics in the Age of Austerity, herausgegeben von Armin Schäfer und Wolfgang Streeck, Cambridge 2013, S. 169–195; Armin Schäfer / Harald Schoen, « Mehr Demokratie, aber nur für wenige ? Der Zielkonflikt zwischen mehr Beteiligung und politischer Gleichheit », in: Leviathan 1/ 2013, S. 94–120.
22 Armin Schäfer, « Mehr Markt, weniger Beteiligung ? », Vortrag, gehalten auf der Darmstädter Tagung Soziale Krise der Demokratie am 6. Juli 2013.
23 Dazu: Dawson / Witte, a.a.O. 2014, S. 16ff.; ähnlich: Brunkhorst, a.a.O. 2014, S. 157ff.
24 Jürgen Habermas, Technik und Wissenschaft als «Ideologie», Frankfurt 1968.
25 Ähnlich: Dawson / Witte, a.a.O. 2014.
26 Fritz Scharpf, a.a.O. 1997, S. 82.
27 Vgl. auch Dawson / Witte, a.a.O. 2014, S. 16f.
28 So auch: Grimm, a.a.O. 2014.
29 Grimm, a.a.O. 2014.
30 Paul Statham / Hans-Jörg Trenz, « Understanding the mechanisms of EU politicization: Lessons from the euro-zone crisis », unveröffentlichtes Manuskript ( 2013 ); Jürgen Gerhards / Holger Lengfeld, Wir, ein europäisches Volk ?: Sozialintegration Europas und die Idee der Gleichheit aller europäischen Bürger, Wiesbaden 2013; ähnlich umfangreiche Forschungen zusammenfassend: Michael Zürn / Christian Rauh, « Legitimationsprobleme im Früheuropäismus », in: Frankfurter Allgemeine vom 19. Mai 2014, S. 6.
31 Ähnlich Offe, a.a.O. 2013.
32 Gerhards / Lengfeld, a.a.O. 2013, S. 211ff., 215.
33 Ebd., S. 219.
34 Ebd., S. 217.
35 2012 wurde die EU für ihren Einsatz für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte in Europa mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Vgl. Offe, a.a.O. 2013; vgl. auch Rainer Forst, Transnational Justice and Democracy. Overcoming Three Dogmas of Political Theory, unpubliziertes Paper, vorgelegt für eine Panel-Diskussion auf der Constellations 20th Anniversary Conference, New York: New School for Social Research, 26.04.2014; Hauke Brunkhorst, «Privateigentum, Verdinglichungskritik und die Vergesellschaftung der Produktionsmittel», in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 63/3, Juli 2014, S. 487– 509.
36 Vgl. auch Markus Büchting / Frank Herrmann / Stefanie Janczyk u.a., « Eine Perspektive für den Kampf um gewerkschaftliche Gestaltungsmacht in Europa: Europäische Tarifautonomie ist möglich!» Januar 2008, online verfügbar unter: http://www.tarifautonomie.eu/Download/inet.pdf ( Stand Januar 2014).
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