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Auf Fährten der Grotexte
Autor: Peter Eisenman – erschienen in archithese 2.1989 Überladene Terrains, S. 29–30.
Es ist wunderlich wie umfassend die Illusion ist, dass Schönheit gut sei.
Leo Tolstoi
( ... ) Architekten spekulieren traditonellerweise nicht über Hier und Jetzt, über Schwerkraft, wie das die Wissenschafter zu tun pflegen. Die Architekten haben sich mit der realen Bedingung der Schwerkraft zu befassen, sie haben Hier und Jetzt zu bauen. Sie haben sich mit physikalischer Gegenwart auseinanderzusetzen. Tatsächlich symbolisieren die Architekten nicht nur die Überwindung der Natur, müssen sie doch fortwährend die Natur überwinden. Für die Architekten ist es nicht einfach, allein den Standpunkt zu verschieben und zu sagen, das Überwinden der Natur sei nicht länger das Problem, denn dies verbleibt offensichtlich ein Problem. Gleichwohl ist es möglich, meinem wissenschaftlichen Bauherrn (der Präsident der Carnegie Mellon Universität, Anmerkung der Übersetzung) zu antworten und gleichzeitig sich weiterhin mit den Problemen der Gegenwärtigkeit und der Schwerkraft zu befassen (...). Doch geht es nicht blass, wie in der Vergangenheit, darum, den Gravitationskräften zu widerstehen, sondern um die Art und Weise, wie dieses Überwinden symbolisiert wird. Mit anderen Worten; es genügt nicht vorzuschlagen, dass das Bauen rational, wahrhaft, anmutig und gut sein soll, dass es als Nachahmung des Natürlichen auf die Überwindung der Natur durch den Menschen verweisen soll. Im Moment, da der Diskurs über die Architektur seinen Brennpunkt von der Natur zum Wissen (knowledge) verschiebt, zeichnet sich vielmehr ein weit komplexeres Objekt ab, das wahrscheinlich eine komplexere Form architektonischer Realität verlangt. Denn das Wissen hat, im Gegensatz zur Natur, keine physische Präsenz. Was wird in physischer Form dargestellt, wenn das Wissen überwunden wird? Natur war herkömmlicherweise die Schwelle des Erfassbaren. Sie vermittelte in der Welt der Aufklärung die verlorene Gewissheit in Gott. Das Natürliche wurde somit eine aufgewertete Grundbedingung, vertretbar sowohl um die Welt in übertragener Form zu erklären, als auch als Prozess und Ding der Nachahmung (emulation).
An der Wurzel der vorliegenden konzeptionellen Struktur der Architektur liegt die Vitruvian'sche Dreiheit der Umgänglichkeit, der Festigkeit und der Gefälligkeit (Nutzen, Struktur und Schönheit). Als dialektische Kategorie wurde das Schöne als singuläre, eindeutige Bedingung verstanden, die mit Güte, mit dem Natürlichen, dem Rationalen und dem Wahrhaften verbunden wurde. Das entspricht, was Architekten mit ihrer Architektur anzustreben gelehrt wird. Sie suchen und zeigen demnach Bedingungen des Schönen als eine Form des Gefälligen im Vitruvian'schen Sinne auf Es lag in solch einem Streben, dass diese Form des Schönen während der letzten fünfllunclert Jahre als ob natürlich betrachtet wurde. Es gab Regeln für das Schöne, in der Klassizistischen Ordnung beispielsweise, die sich, obwohl Änderungen unterworfen, im Laufe verschiedener Abschnitte der Architektur – vergleichbar eiern Wechsel der Stile in der Mode –, nie wesentlich verlagerten, selbst in der modernen Architektur nicht.
Immanuel Kant begann im 18. Jahrhundert dieses eine Konzept der Schönheit zu destabilisieren. Er schlug die Möglichkeit eines anderen Inhaltes vor, andere Wege, Schönheit konzeptionell auszubauen, anders als mit Güte, anders als mit dem Natürlichen. Er schlug vor, dass innerhalb des Schönen eine andere Bedingung liege, die er das Erhabene (sublime) nannte. Das Erhabene stand bevor Kant, wenn immer es auftauchte in einem dialektischen Gegensatz zur Schönheit. Mit Kant kam die Anregung, dass das Erhabene unmittelbar Teil des Schönen sei und das Schöne unmittelbar Teil des Erhabenen. Der Abstand zwischen Gegensatz und gegenseitigem Teilhaben befindet sich im Zentrum der folgenden Erörterung.
Nun enthält interessanterweise das Erhabene in sich eine Bedingung, die vom Schönen herkömmlicherweise unterdrückt wird. Es handelt sich um den Zustand der Ungewissheit, des Unaussprechlichen, des Unnatürlichen, des Fehlenden, des Unphysischen; zusammengebracht bilden diese einen Zustand, der sich eiern Abschreckenden nähert, eine Bedingung, die im Erhabenen selbst liegt.
Der Begriff der Groteske wird üblicherweise als negative Umkehrung des Erhabenen verstanden. Die Groteske befasst sich mit dem realen Wesen, mit der Offenbarung der Ungewissheit im Physischen, wenn auch dies im Rahmen der Architektur, worin sich das Erhabene um die Eigenschaften des Luftigen drehte, nicht ganz der Fall ist. Mit der Annahme, dass Architektur sich mit der physischen Präsenz befasst, ist die Groteske in einem gewissen Sinne schon Teil des Architektonischen. Und diese Rahmenbedingungen der Groteske waren akzeptierbar, solange sie als Dekoration auftrat: in Gestalt von Wasserspeiern und Fresken. Diese Gestalt steht in Beziehung zur vom Grotesken eingeführten Idee des Hässlichen, des Entstellten, des vermeintlich Unnatürlichen als ein allgegenwärtiges Element im Schönen. Es ist diese Rahmenbedingung des Allgegenwärtigen oder des schon Enthaltenen, dessen Unterdrückung dem Schönen in der Architektur gelingt.
Dass die Überwindung der Natur oder die Schilderung der Natur die Aufklärung und die technologischen und wissenschaftlichen Umwälzungen beschäftigte, war offensichtlich. Im Gegenzug spielte das Konzept der Groteske, wie es in der Romantik von Wordsmith, Keats und Shelley entwickelt wurde, im Überdenken dieser Beziehung zwischen dem Selbst und der Natur, eine Rolle. Demnach beschreiben das «Erhabene» und die «Groteske» heute dieses Hin und Her zwischen dem Selbst und der Natur und beteiligen sich an der Darstellung dieses Unbehagens in Literatur und Malerei. Wenn die «Natürlichkeit» der Natur ins unbehagliche Hin und Her zwischen Natur und Selbst verlagert werden soll, verlangt dies, dass unsere Ideen des Erhabenen und des Grotesken ein neues konzeptionelles Verständnis finden, im Sinne der Überwindung des Wissens, ohne jedoch die Furcht, die mit der Überwindung der Natur verbunden wird, die Furcht vor dem Ungewissen, zu verlieren; so sollte beispielsweise die Furcht, nicht fähig zu sein, die Natur zu überwinden, in allen verlagerten Kategorien bewahrt bleiben.
Furcht respektive Ungewissheit ist somit zweifach gegenwärtig: sowohl die vorhergehende Ungewissheit im Natürlichen, als auch jene vom kaum Erfassbaren verschiedene Ungewissheit, die der Unsicherheit des Wissens (knowledge), die im Wissen selbst liegt, entspricht. Die Tatsache, dass sich die Bedingungen des Erhabenen und des Grotesken vom Ausdruck der Überwindung der Natur durch den Menschen weiterentwickelt haben, verlangt, dass neue Begriffe, die diese zweifache Ungewissheit verdeutlichen, gefunden werden müssen: Die entsprechende Ausdrucksform für das Überwinden des Wissens durch den Menschen entpuppt sich somit als viel komplexer.
Was heisst das für die Architektur? Um die notwendige Verlagerung in sich selbst zu bewerkstelligen, müsste Architektur die herkömmlichen Mittel, um sich selbst eine konzeptionelle Struktur zu geben, verlagern. Daraus würde folgen, dass das Konzept des Hauses oder jegliche andere Form Raum zu besetzen, eine komplexere Form des Anmutigen verlangt, eine Form, die das Hässliche enthält, respektive eine Rationalität, die das Irrationale enthält. Diese Idee des einschliessenden Enthaltens erfordert einen Bruch mit der Tradition einer Architektur der Kategorien, der Typen, die in ihrem Wesen auf der Unterscheidung der Dinge als Gegensätze, beruht. Vier Aspekte scheinen die Bedingungen einer Verlagerung (displacement) abzuzeichnen. Jene folgenden vier Aspekte sollten demnach weder als umfassend betrachtet werden (es könnte noch andere geben), noch als Versicherung, dass ihre Kraft zu verrücken eine entsprechende Architektur entstehen lässt.
Eine bedeutende Verlagerung betrifft die Rolle des Architekten/Entwerfers und des Entwurfsprozesses. Sicher ist es möglich, etwas zu entwerfen, das verwirrend genannt werden könnte, aber es mag sich allein um Expressionismus handeln, um eine manieristische Verzerrung einer im wesentlichen beständigen Sprache. Sie vermag die Beständigkeit der Sprache nicht zu verlagern, im Gegenteil, sie verfestigt ihre normative Beschaffenheit. Dies können wir an manchen Beispielen geläufiger modischer Architektur feststellen. Wir sehen die Notwendigkeit eines sich von Intuition, – «mir gefällt dies», «mir gefällt jenes», unterscheidenden Prozesses. Solange der Prozess intuitiv bleibt, ist er uns nicht fremd und beteiligt uns demnach an den Verdrängungen, die Kenntnisse der Architektur bedingen. Intuitives Entwerfen ist nicht in der Lage, einen Zustand der Unsicherheit zu erzeugen, im besten Falle, eine Ungewissheit zu erläutern. Während einerseits das Konzept der Groteske oder des Unheimlichen konzeptionell ausgebaut und veranschaulicht werden kann, ist es andererseits nicht möglich, es zu entwerfen. Entworfenes ist in seinem Wesen nicht-textlich, denn das Entwerfen zieht das Gewisse notwendigerweise mit ein. Der Versuch, im Raum des Ungewissen oder des Vieldeutigen zu entwerfen, führt nur zu einer oberflächlichen Veranschaulichung einer solchen Bedingung. Die Ungewissheit verliert sich, sobald entworfen werden kann.
Im Rahmen des herkömmlichen Verständnisses eines Architekturentwurfes können Form, Funktion, Struktur, Ort und Bedeutung als Texte betrachtet werden. Sie haben jedoch keine textliche Qualität. Texte werden immer für ursprüngliche respektive originale Quellen angesehen. Textlich oder Textlichkeit ist jener Aspekt eines Textes, der die Bedingung des Ausgeschlossenseins (otherness) respektive des Beistehenden (secondarity) definiert. Ein Beispiel dieser Bedingung in der Architektur ist die Spur (trace). Wenn Architektur in erster Linie als eine Form der Gegenwart betrachtet wird, Stofflichkeit, Ziegel und Mörtel u. a., dann würde das Ausgeschlossensein oder das Beistehende jenes Spuren hafte sein, als das Gegenwärtige des Abwesenden. Das Spurenhafte kann nicht ursprünglich sein, denn das Konzept Spur deutet immer auf die Möglichkeit von etwas Anderem (other) als das Ursprüngliche, als etwas Vorausgegangenes. In jedem Text finden sich potentielle Spuren dieses Anderen, Aspekte oder Strukturen, die vom Gegenwärtigen unterdrückt worden sind. Solange das Gegenwärtige dominant bleibt, als Singular beispielsweise, kann sich keine Textlichkeit ergeben. Demnach liegt es in ihrer Natur, dass die obigen Rahmenbedingungen des Spurenhaften mindestens zwei Texte erfordern.
Der zweite Aspekt dieser anderen Architektur ist somit, was Zweiheit (twoness) genannt werden könnte. Es gibt viele verschiedene Zweiheiten, die bereits innerhalb des herkömmlichen Rahmens der Architektur existieren: die Zweiheit von Form und Funktion, die Zweiheit von Struktur und Ornament. Sie werden aber herkömmlicherweise als hierarchische Kategorien betrachtet, die eine wird immer als dominant respektive ursprünglich und die andere als untergeordnet angenommen (Form folgt Funktion, Ornament wird zur Struktur hinzugefügt). In einem Sinne wie sie hier gebraucht wird, regt Zweiheit einen Zustand, der Vorherrschendes oder ursprungsbezogene Werte ausschliesst, an, ein Gefüge von Gleichwertigkeiten, in dem sich Ungewissheit zeigt, anstatt einer Hierarchie. Solange der eine Text zu dominant ist, ergibt sich keine Verlagerung. Sobald selbst der andere Text fassbar wird, drängt sich dessen Gegenwart auf, und er verliert seine Kraft, das Ungewisse zu integrieren. Entsprechend zeigt sich, dass der sekundäre Text den primären Text nicht überlagern kann, sondern als ihm innewohnend verstanden werden muss, demnach bereits gegenwärtig ist, als Spur, die üblicherweise durch eine einzige dominante Möglichkeit des Verständnisses unterdrückt wird. Dieser sekundäre Text wird somit immer im primären Text enthalten sein und schliesslich zwischen herkömmlicher Gegenwart und der Abwesenheit, zwischen Seiendem und nicht Seiendem.
Die dritte Bedingung dieser anderen Architektur ist demnach deren Zwischendasein (betweenness), das als Zustand des Objektes jener eines schwachen Bildes anregt. Ein starkes Bild würde dem einen oder dem anderen der Texte einen vorherrschenden ursprünglichen Sinn geben. Es genügt zudem nicht, dass weder der eine noch der andere Text kein starkes Bild andeutet, sollen sie doch als zwei schwache Bilder erscheinen und somit ein verwischtes drittes andeuten. Der neue Zustand des Dinges soll, in anderen Worten, in einem auch bildhaften Sinne «Inzwischen» sein, als etwas, das beinahe «Dieses» ist oder beinahe «Jenes», aber keines wirklich ganz. Die verrückende Erfahrung ist die Ungewissheit der teilweisen Erkenntnis. Das Objekt muss demnach eine verwischende Wirkung haben. Es soll ausserhalb des Brennpunktes erscheinen, beinahe gesehen, aber doch nicht ganz gesehen. Dieser Zwischenzustand ist wieder nicht ein dialektisches Inzwischen sein, sondern ein Inzwischen sein in sich selbst. Der Verlust der Architektur als kräftiges Bild unterläuft die herkömmlichen Kategorien einer Architektur, die mit der Überwindung der Natur in Verbindung gebracht wird: Ort, Weg, Eingrenzung, Gegenwärtigkeit und das rückgratig aufrechtstehende Gebäude, symbolisch für das Überwinden der Schwerkraft.
Die herkömmlichen Konzepte Ort und Eingrenzung abzulehnen, regt eine weitere Bedingung dieser verlagerten Architektur an, nämlich Innerlichkeit (interiority). Innerlichkeit hat nichts zu tun mit dem Innern oder dem bewohnbaren Teil eines Gebäudes, jedoch vielmehr mit der Bedingung eines Seins in sich selbst. Innerlichkeit befasst sich somit, wie im Falle der Groteske, mit zwei Umständen, dem Verdeckten und dem Ausgehöhlten. Innerlichkeit nimmt ebenfalls die in der Natur der Textlichkeit vorliegende Bedingung auf, dass sich die Symbolik respektive der Sinn eines jeden Zeichens in einer verlagerten Architektur nicht gegen Aussen, sondern gegen Innen auf einen bereits gegenwärtigen Zustand bezieht.
Schlussendlich bewirkt jede dieser vier Bedingungen eine Ungewissheit im Objekt, indem es sowohl dem Architekten wie auch dem Benutzer jegliche notwendige Kontrolle über das Objekt entzieht. Der Architekt ist nicht länger die Hand und der Geist, die mythische Schöpferfigur im Entwurfsprozess. Und das Objekt verlangt nicht länger das Verständnis der Erfahrung durch den Benutzer. Das Objekt braucht nicht länger hässlich und abschreckend auszusehen, um eine Unsicherheit zu provozieren. Nun ist es die Distanz zwischen Objekt und Subjekt, die Unmöglichkeit des Erfassens, die diese Beklemmung erregt.
Bemerkung des Autors. Dieser Text ist eine Reihe von Anmerkungen, die bloss die Oberfläche eines Themas aufgreifen, das in meinem vor der Ausgabe stehenden Buch «The Edge ofBetween» umfassender aufgenommen werden wird.
Peter Eisenman, * 1932 in Newark, New Jersey. Studium der Architektur an den Universitäten Cornell, Columbia und Cambridge (England). Lehre an den Universitäten Cambridge, Princeton und Cooper Union. Bis 1982 Direktor des 1967 von ihm gegründeten Institute for Architecture and Urban Studies in New York und Mitherausgeber der Zeitschrift Oppositions. Gegenwärtig freischaffender Architekt.
Aus dem Englischen: Simon Hubacher
> Der Artikel ist ursprünglich erschienen in archithese 2.1989 Überladene Terrains.