Aus welchem Land kommen Sie?


Ein neuer Fokus aufs Land

Der Katalog Countryside zur Schau im New Yorker Guggenheim Museum zusammengetragen von Rem Koolhaas und seinem Forscherteam – fordert auf, künftig stärker auf die ruralen Räume zu schauen. Ein Paradigmenwechsel, nachdem für Jahrzehnte die global wachsenden Städte als die wichtigsten Schauplätze für die Entwicklung von Architektur im Fokus standen. Doch sind Schau und Buch weniger futuristisch, als dies der Untertitel der Ausstellung the Future vermuten liesse. Dafür stellen sie viele interessante Fragen. Doch (leider) bleiben diese fast alle unbeantwortet.

 

Rezension: Aglaia Brändli – 24. August 2020

 

In der begleitenden Publikation zur Ausstellung Countryside. The Future, die im Guggenheim Museum in New York gezeigt wird (jedoch bedingt durch die Corona-Pandemie derzeit geschlossen ist), haben der Architekt Rem Koolhaas und sein Team eine Vielfalt an Essays, Interviews, Fakten und Bildern versammelt. Das Buch ist kompakt, eher Taschenbuch als Ausstellungskatalog. So dicht wie Städte (heutzutage wieder) besiedelt sind, so komprimiert ist auch der Inhalt dieses kleinen, silbrig schimmernden Buches. Verhandelt werden darin aber nicht – wie man das vom niederländischen Architekten und Theoretiker erwarten würde – Städte oder Vorstädte, sondern diejenigen Räume der Erde, die sich den Dynamiken urbanen Verdichtung scheinbar entziehen. Koolhaas, der vor allem durch seine Auseinandersetzung mit modernen Grossstädten wie beispielsweise New York bekannt geworden ist, hat sich in den vergangenen zehn Jahren all dem zugewandt, was er als nicht-urban oder eben als Countryside klassifiziert. Das weltweit vernetzte Team seines Thinktanks AMO hat sich einer Recherche gewidmet, die sich auf annähernd 98 Prozent der bewohnbaren Erdoberfläche bezieht. Es erstaunt daher nicht, dass ein Sammelsurium an Materialien und Storys entstanden ist, in dem man sich als Besucher*in im Guggenheim Museum nur schwer orientieren kann. Durch die spiralförmige Ausstellungsfläche des von Frank Lloyd Wright entworfenen Museums und der visuellen Reizüberflutung der Countryside-Schau, wird den Besucher*innen schwindelig.
Auch der Katalog ist mit vielfältigem Material bepackt, kommt jedoch etwas übersichtlicher daher. Er bietet Einblicke in die Breite der Recherche. Man erfährt etwa von tauenden Permafrostböden in Sibirien, über die Wiederbelebung verlassener Dörfern in Europa durch Migranten, chinesischen Infrastrukturprojekten auf dem afrikanischen Kontinent, Guerilla-Politik und Pixel-Farming in den Niederlanden. Die Szenerien, die das Team rund um Koolhaas in den ländlichen Gebieten angetroffen haben, sind breit gefächert, faszinierend und doch gleichermassen verstörend.

 

Zukunfts-Optimismus
Die Autor*innen machen deutlich, dass es die – teilweise wie Science-Fiction anmutenden – Narrative im ländlichen Raum sind, die unsere Zukunft schreiben werden. Die visuelle Aufmachung des Katalogs erinnert zum Teil an die Didaktik von Wissenssendungen für Kinder- und Jugendliche, wie man sie aus dem Fernsehen kennt. Die Texte werden von Bildern umspült, welche die Diversität und Reichweite der Thematik veranschaulichen. Teilweise sind sie in den Lauftext integriert, teilweise stehen sie alleine oder werden begleitet von Beschreibungen. Dadurch entsteht eine Dynamik zwischen Text und Bild, Visualisierung und Inhalt. Vielleicht resultiert diese Leichtigkeit auch daraus, dass die Publikation keinen belehrenden Charakter hat, auch wenn die Einleitung der Publikation das noch befürchten lässt. Man nimmt den Autor*innen ihre Neugierde für die Thematik ab und ihre Begeisterung steckt an.

 

Zwischen Auslegeordnung und Wirrwarr
Die Perspektiven sind vielfältig, beziehen sich auf historische Begebenheiten, erzählen subjektive Erlebnisse nach oder versuchen philosophische Fragestellungen zu fassen. Auch Bezüge zur bildenden Kunst, Literatur und Pop-Kultur sind in den Texten des Katalogs allgegenwärtig. Auffällig ist jedoch die Nachdrücklichkeit, mit welcher sich die Verantwortlichen sowohl von der Idee einer Kunstausstellung als auch von anderen etablierten Ausstellungsformaten distanzieren.
Aber was sind Ausstellung und Katalog denn dann? Man hofft, dass die Orientierungslosigkeit kein Indiz für Beliebigkeit ist, sondern gewollt herbeigeführt wurde. Soll sie das Definitionsproblem und die unfassbare Vielfalt, was alles Countryside ist, auf performative Art und Weise vermitteln?

 

Mehr als Hinterland
Countryside. The Future und einhergehend auch die Publikation A Report – dies betont Koolhaas in seiner Einleitung – sollen keineswegs eine Polemik gegen das Modell Stadt sein. Das Projekt ist eine Sammlung von Ideologien und Entwicklungen, die versucht, anhand von Daten aus verschiedenen Bereichen und Orten den gegenwärtigen Zustand des ländlichen Raumes zu dokumentieren. Derzeit ist er schwer zu definieren, weil sich Wahrnehmungen und Realitäten von dem, was Stadt und Land ist, zunehmend voneinander entfremdet haben, sie als System für unsere menschliche Kultur aber noch immer untrennbar Einheiten bilden, die in vielfältigen und unmittelbaren Abhängigkeiten stehen. Koolhaas fordert, dass das Land zukünftig nicht nur zudienend sein darf, ein Restprodukt des urbanen Raumes, oder bloss Rückzugsort für eine reizüberflutete Stadtbevölkerung.

 

Offene Fragen
«Wohin sind denn bloss die Kühe verschwunden und wann ist das eigentlich passiert?» Konkrete Antworten auf diese und andere Fragen erhalten die Lesenden keine. Im Gegenteil: Das letzte Kapitel des Buches besteht aus 27 Seiten gefüllt mit Fragen – jede von ihnen ragt über eine ganze Seite. Nachhaltig ist dieser üppige Umgang mit Papier nicht. Wenn man das Anliegen der Autor*innen ernst nimmt, verweist die Gewichtung des letzten Kapitels des Kataloges aber vor allem darauf, dass eine Beschäftigung mit der Thematik unabdingbar und es an der Zeit ist, Fragen zu stellen und Lösungen zu suchen.

 

> 2014 kuratierte Rem Koolhaas die Architekturbiennale von Venedig. archithese hat mit Fundamental Palace ein ganzes Heft rund um die Schau konzipiert.

> Bislang hatte Rem Koolhaas wenig Herz für historische Bausubstanz. Jørg Himmelreich zeigte am Umbau der Fondaco die Tedeschi auf, dass der Niederländer im Alter sentimentaler geworden ist.

> Wie Landwirtschaft und Urbanisierungsprozesse zusammenhängen, erläutert Hans Hortig in der nächsten archithese zur Geopolitik am Beispiel von Palmölplantagen. Das Heft erscheint am 1. Dezember 2020.

> Im Juni 2021 fragt archithese mit dem Heft Koexistenz, ob es möglich sein könnte, unsere menschliche Umwelt so zu gestalten, dass sie auch anderen Arten einen Lebensraum geben, oder – genauer gesagt – lassen könnte.

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