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Ein Haus unter dem Mond

Autorin Charlotte Malterre-Barthes und Illustratorin Zosia Dzierzawska präsentieren Eileen Gray und ihr mythisches E.1027 Haus als unterhaltsame graphic novel.

 

Rezension: Eliana Perotti – 10.7.2020

 

Von Mythen und Rätseln
Le Corbusier schlendert rauchend ein letztes Mal zum Strand, legt die runde Brille ab und geht ins Wasser. Er schwimmt. Es ist das Jahr 1965. Der Architekt wird aus dem Meer nicht mehr zurückkehren. Er stirbt, als hätte das Schicksal eine romanhaft-spöttische Laune ausgelebt, unmittelbar unterhalb des Hauses E.1027, der Sommerfrische, die Eileen Gray zwischen 1926 und 1929 für sich und ihren Geliebten, den Architekten Jean Badovici, an der Französischen Riviera geplant und gebaut hatte.

 

Dramen und Eifersucht
Was uns in Form einer fast monochrom gehaltenen graphischen Erzählung von Autorin Charlotte Malterre-Barthes und Illustratorin Zosia Dzierzawska vor Augen geführt wird, ist ein urtümliches, archetypisches Drama von Eifersucht, Neid und versuchter Aneignung. Das Narrativ geht auf Beatriz Colominas epochale Deutung der Ereignisse rund um die Villa E.1027 zurück, die sie 1996 in einem Aufsatz veröffentlichte. Die Geschichte erzählt von Eileens Grays Hausprojekt, welches Le Corbusiers «Fünf Punkte zu einer Neuen Architektur» paradigmatisch verkörpert und zugleich damit zum Konzept der Wohnmaschine auf Distanz geht. Denn die Wohnmuschel E.1027 ist wesentlich sinnlicher und organischer.

 

Distanz und Nähe
Le Corbusier, mit Badovici und Gray befreundet, war Ende der 1920er-Jahre mehrmals zu Gast in der Villa. Später – zwischen 1938 und 1939 – als Gray und Badovici sich getrennt hatten und das Haus häufig ungenutzt war, bemächtigte er sich dessen und setzte seine künstlerischen Markierungen: Illustration und Text in Malterre-Barthes und Dzierzawskas architekturhistorischer Bilderzählung schildern glaubwürdig die Urszene, den nächtlichen, demiurgisch-dionysischen Schaffensakt, bei dem Le Corbusier nackt im Mondschein – sozusagen im triebgesteuerten Naturzustand – gegen den Willen der Erschafferin sieben Wände des Hauses ausmalte. Gray war darüber so erzürnt, dass sie das Haus nie wieder betrat und sich in sicherer Distanz eine neue Sommerresidenz erbaute. Le Corbusiers, der die Öffentlichkeit gerne im Irrglauben liess, dass E.1027 sein eigenes Werk sei, scheint zeitlebens wie von einer Obsession, einer Art Werkneid, gefangen gewesen zu sein; das spartanische Sommerrefugium Le Cabanon, das er 1950 für sich baute, stand ausgerechnet oberhalb der Villa, die er so stets im Blick hatte.

 

Von alten und neuen Held*innen
A House under the Sun
erzählt in kompakten Rückblicken Leben und Arbeit von Eileen Gray. Episodisch und mittels thesenartiger Gespräche werden sie den Lesenden näher gebracht: die Kindheit in Irland, die Entdeckung der Lackkunst, die Ladeneröffnung in Paris, das lesbische intellektuelle Milieu um Gertrude Stein, die Liebschaft mit der Sängerin und Schauspielerin Damia und ihre Auseinandersetzung mit Design und Architektur. In der zwanglosen Sprache des Bildromans gelingt dem graphic novel über Eileen Grays E.1027 vielleicht das, was akademische Forschung nur schwer bewerkstelligen kann: Sie formuliert ein wirkungsvolles und eindeutiges Korrektiv zu einer ewig heldenlastigen Architekturgeschichtsschreibung.

 

> Katarina Bonnevier interpretierte in archithese 2.2020 Eileen Grays Werk E.1027 als queere Architektur.

> Frauen in der Schweizer Architekturgeschichte: über die Rettung des Saffa-Pavillons von Architektin Berta Rahm

> Lesen Sie über Eileen Grays «unbekümmerten Umgang mit der Moderne» in der pdf-Version von archithese 4.1991. Das gesamte Heft ist der herausragenden Gestalterin gewidmet.

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