Die Vergangenheit in der Zukunft
Mit einer neuen Schau im S AM in Basel präsentiert der japanische Architekt Tsuyoshi Tane erstmals in Europa seine archäologische Arbeitsweise. Mit seinem Werk scheint er uns zu fragen: Was, wenn wir nicht mehr zwischen alt und neu unterscheiden? Welchen Wert das für die Architektur haben kann, davon erzählen Tsuyoshi Tanes Arbeiten auf vielfältige Art und Weise; Vergangenheit und Zukunft reichen sich darin die Hände. Am 16. Oktober 2020 öffnete die Schau ihre Tore. archithese war dabei.
Autor: Martin Kohlberger – 4.11.2020
Noch immer gelten für die meisten Menschen die Wertmassstäbe der Moderne: Neues und Fortschritt werden positiv gewertet, während es zum kulturellen Erbe und der Vergangenheit ganz allgemein keinen Zugang und nur eine geringe Wertschätzung für erhaltene Artefakte gibt. Doch im Angesicht globaler Probleme – allen voran der Klimaerwärmung mit ihren katastrophalen globalen Folgen – sind Alternativen zu unseren derzeitigen Kulturpraktiken gefragt. Könnten wir von der Vergangenheit – allem voran der Naturgeschichte – für unsere Gegenwart etwas lernen? Der japanische Architekt Tsuyoshi Tane versucht Inspirationen für seine Bauwerke am jeweiligen Ort zu finden und von ihnen zu lernen.
Aktivierte Referenzen
Das Schweizerische Architekturmuseum Basel illustriert in einer faszinierenden und dichten neuen Ausstellung das Schaffen des 1979 geborenen Japaners Tsuyoshi Tane. Die Schau ist die erste monografische Ausstellung seit fünf Jahren im Museum. Gezeigt wird ein «Mood-Board», das die beiden grossen Ausstellungsräume komplett überwuchert. Sie zeigen Projekte und zahlreiche Referenzen. Die Wände sind übersäht mit spannenden Bildern. Freistehende Regale sind mit unzähligen Modellen befüllt. Die Besuchenden mögen sich davon im ersten Moment überwältigt fühlen. Das ist durchaus gewollt: Die sinnliche Dichte führt dazu, dass Altes und Neues als Einheit wahrgenommen werden. Die Gestelle, die in den Ausstellungsräumen verteilt sind, setzen die Referenzen mit einzelnen Projekten lose in Bezug. Sie zeigen, wie Tane mit Handwerkstechniken, Natur- und geometrischen Formen spielt und sie in seinen Arbeiten aktiviert und kombiniert. Gegenstände, die der Architekt und sein Team an verschiedenen Orten findet, werden in unterschiedlichen Massstäben re-interpretiert. Zudem sind auch Projektionen zu sehen, welche die gebauten Objekte des Architekten vorstellen.
Re-Interpretationen
Mit dem estnischen Nationalmuseum gewann der Architekt Tsuyoshi Tane – damals noch als Teil des Kollektivs Dorell.Ghotmeh.Tane – im Jahr 2006 seinen ersten Wettbewerb. Das Museum scheint aus dem Boden eines ehemaligen Flugfeldes hervorzuwachsen und veranschaulicht so Tanes enges Verhältnis zum Boden und der Natur. Ein Wettbewerbsbeitrag für das New National Stadium in Tokio (2012) zeugt von einem ähnlichen Herangehen. Das Bauwerk wirkt in das Terrain eingesunken und zugleich wächst die Natur als Wald über das Dach. Das mit Technik gefüllte Stadion wird mit dieser Geste überwuchert, jedoch nicht bekämpft.
Seit 2017 arbeitet der Architekt in einem Atelier in Paris. Für die Stadt hat er ein Restaurant entworfen. In diesem Projekt wird deutlich, wie der Architekt handwerkliches Wissen mit zeitgemässen maschinellen Produktionstechniken verbindet. Die Wandverkleidung im Innenraum des Lokals wurde aus Terrakotta-Platten gefertigt, die wie Ziegel produziert und danach von Hand an den vier Ecken abgeschnitten wurden, um eine achteckige Form zu erhalten, die Tane als Referenz an frühe Terrakotta-Fertigungsmethoden sieht. Ein anderes Gebäude in Kyoto verwendet gezielt scheinbar alte Materialien und Holz, das von Abbruchhäusern stammt. So lebt die architektonische Vergangenheit Kyotos im neuen Gebäude weiter. Tsuyoshi Tane negiert die Unterscheidung zwischen alt und neu. Er findet beides im selben Material und hinterfragt so die Geschichtlichkeit in der Architektur.
Neue Bezugnahmen
Der genealogische, die Geschichte durchforstende Blick, mit dem der Architekt seine Umwelt erkundet, hat wenig mit den üblichen Ansätzen der Geschichtsschreibung zu tun. Indem Tsuyoshi Tane Objekte archiviert und die Informationen und Qualitäten, die diesen innewohnen untersucht, gibt er der materiellen Naturgeschichte einen besonderen Wert. Die Objekte, natürliche Artefakte aber auch Handwerkwerkliche Erzeugnisse, werden von Tane wiedererinnert, indem er versucht, diese in seinen Projekten mit modernen Mitteln zu interpretieren. Der Architekt schafft es aber durch seinen speziellen Zugang zur Vergangenheit, diese nicht zu glorifizieren. Diese Herangehensweise scheint Wege aufzuzeigen, wie die menschliche Kultur sich künftig auf rücksichtsvollere Art in die Natur einbetten könnte. Und sie gibt uns Antworten darauf, was Natur in der Gegenwart überhaupt ist.