Die chinesische Versuchung
Architektur und Moral
Die Debatte um die moralische Legitimität eines architektonischen Engagements in China ist festgefahren: Eine kritisch agierende Rolle einzunehmen würde bedeuten, die Polarität von Angriff und Verteidigung aufzugeben.
Autor: Sascha Delz – erschienen in archithese 4.2008 Peking 2008 + Shanghai, S. 28–31.
«Alle wichtigen Architekturströmungen des letzten Jahrhunderts waren stark von politischen Systemen beeinflusst. Man schaue sich das sowjetische System mit seinem Konstruktivismus und Stalinismus an, Weimar mit dem Stil der Moderne, Mussolini, und natürlich die Nazis mit Albert Speers kolossalen Bauten.»
Rem Koolhaas1
«Wirklich die ganze westliche Welt handelt mit China. Das ist eine Tatsache. Warum sollte es also ein Architekt nicht tun?»
Jacques Herzog 2
Viel ist kritisiert und relativiert worden, seit im Jahre 2001 die Olympischen Spiele an China vergeben wurden. Die Bedenken, die Sommerspiele an ein autokratisches Regime zu vergeben, durchdringen und verstärken eine Vielzahl von soziokulturellen und politischen Diskussionen, welche in Bezug auf China schon eine Weile brodeln. Sie reichen von berechtigten Fragen hinsichtlich der Verletzung von Menschenrechten über wieder zu grosser Aktualität gelangte ökologische Überlegungen bis hin zu eher politisch motivierten Angstäusserungen gegenüber der aufstrebenden Weltmacht. Ob man nun für oder gegen die Vergabe der Spiele an China war: Der Effekt des olympischen Vergrösserungsglases, unter welchem sich China – zumindest momentan – vor der Weltöffentlichkeit bewegen muss, ist nicht von der Hand zu weisen. Ironischerweise wird unter dieser allumfassenden Lupe der Fokus nicht nur auf die chinesischen Handlungen gelegt, dasselbe passiert in zunehmendem Masse auch mit den Nebendarstellern, die in China eine Rolle spielen. Einer dieser Akteure tritt, nach langer Abwesenheit, wieder auf die Bühne der öffentlichen Kritik zurück: die Architektur.
Diese Bühne wurde im Zuge der architektonischen Nachwehen der Moderne in den Sechziger- und Siebzigerjahren verlassen, als die Architektur sich zum letzten Mal einer starken gesellschaftlichen Kritik ausgesetzt sah. Die Reaktionen der Architekturszene auf diesen Vertrauensentzug prägen ihre Haltung bis heute: Die Architektur hat sich zu weiten Teilen aus allen heiklen gesellschaftspolitischen Debatten zurückgezogen. Sie bewegt sich, bis auf wenige Ausnahmen, in einem selbstreferentiellen, allein auf Objekte zielenden und exklusiven Diskurs. Angesichts einer im Zuge der Globalisierung immer vielschichtiger vernetzten Welt scheint diese Haltung der Neutralität gegenüber allen äusseren, «nicht architektonischen» Einflüssen inzwischen schon fast surrealer, gar trotziger Art. Ein weiterer Grund des verspäteten Auftritts liegt im Wesen der Architektur selbst: Sie ist ein eher behäbiger Ausdruck aktueller gesellschaftlicher und ökonomischer Tendenzen. Was die globalisierte Architektur heute im grossen Stil tut, macht ihr im Speziellen die Konsumgüterindustrie schon seit fast 20 Jahren vor: das Produzieren in Entwicklungs- und Schwellenländern zu unschlagbaren Preisen, mit kaum erreichten Geschwindigkeiten und in einem bisher unvorstellbaren Volumen. Derlei Produktionsmethoden bedingen und befördern in diesen Ländern grosse ökonomische und gesellschaftliche Umwälzungen, welche nicht mehr nur mit einer banalen Marktrhetorik erklärt und bewältigt werden können. Ausgelöst durch diese Entwicklungen wird die Industrie schon seit Jahren mit ethischen und moralischen Fragestellungen bezüglich ihres Engagements konfrontiert, denn die Versuchung ist gross, angesichts der Potenziale in Asien die im Westen geltenden moralischen Prinzipien zu lockern. Zur Debatte stehen nicht nur die Produktionsbedingungen; die Architektur wirft eine andere zentrale Frage auf: die der politischen und ideologischen Repräsentation nicht demokratischer Staatsformen, welche durch Architektur eine physische Manifestation erhalten. Diese zwei Bereiche – die Methoden der Produktion und die ideologische Repräsentation – müssten Teil einer politischen und ethischen Diskussion innerhalb der Disziplin Architektur werden.
Doch wie kann eine solche Auseinandersetzung innerhalb der Architektur beginnen? Was kann diesbezüglich unter dem Begriff «Ethik» verstanden werden? Generell befasst sich Ethik – basierend auf den Prinzipien der grösstmöglichen Freiheiten aller Beteiligten sowie der Formulierung der dazu benötigten Regeln – mit der Definition moralischen Handelns. «Die eigentlich moralische Einsicht besteht», laut Annemarie Pieper, «jedoch darin, dass solche Regeln nicht als ein von aussen auferlegter Zwang aufgefasst werden.»3 Ausgehend von dieser Grundhaltung gibt es verschiedene fachspezifische Ethikdiskurse (beispielsweise im Bereich der Sozialethik oder Wirtschaftsethik). Sie erheben den Anspruch, jenseits eines abstrakten Moralisierens Kriterien herauszuarbeiten, welche letztlich normativ auf in der Realität verankerte Handlungsweisen wirken können. Dieser Anspruch kann jedoch seine Tücken haben: Die Gefahr, sich aus der Position einer allwissenden Moral ins Abseits zu manövrieren, liegt auf der Hand. Auf der anderen Seite des Spektrums jedoch droht in Form eines allumfassenden Relativismus eine andere Sackgasse. Beharrt das Moralisieren oft auf Positionen, welche keine anderen moralischen Denkansätze zulassen, vermag der Relativismus jegliche Positionen gegeneinander auszuspielen und dadurch zu rechtfertigen. «Normative Methoden in der Ethik sind nur als kritische Methoden zulässig, d.h. als Methoden, die keine direkten Handlungsanweisungen geben von der Art ‹In der Situation Z musst du Y tun›. Vielmehr hat eine normativ verfahrende Ethik Kriterien zu entwickeln, die eine moralische Beurteilung von Handlungen ermöglichen, ohne sie bereits vorwegzunehmen. Diese Beurteilungskriterien müssen ständig hinterfragbar, überprüfbar – eben kritisierbar sein.»4 Ein ethischer Diskurs innerhalb der Architektur müsste sich folglich zwischen den oben genannten Extremen bewegen, und versuchen, moralische Ansprüche mit pragmatischen Lösungen zu verbinden.
Was könnten demnach die Beurteilungskriterien für ein architektonisches Handeln sein? Folgende Begriffe seien in einer losen, unvollständigen Reihe als Ausgangspunkte für die Erarbeitung dieser Kriterien vorgeschlagen: Engagement, Wettbewerbe, Sachzwänge, Arbeitsbedingungen. Ist Engagement per definition etwas nur Gutes? (Wie beurteilt man die möglichen Motive einer Regierung oder Institution, für welche man sich engagiert?) Nach welchen Kriterien nimmt man an Wettbewerben teil? (Wer schreibt den Wettbewerb aus? Was für eine Agenda steht hinter dem Wettbewerbsprogramm?) Wo hat der Sachzwang für ein Architekturbüro seine Grenzen? (Ist es eine moralisch vertretbare Haltung, einen Auftrag anzunehmen, um das Einkommen oder Prestige aufzubessern, auch wenn man weiss, dass dafür die eigenen moralischen Standards ignoriert werden müssen?) Was sind die Kriterien für die Arbeitsbedingungen aller Mitwirkenden? (Ist es legitim, Standards, die zum Beispiel in Europa schwer erkämpft wurden, für ein Land wie China als ungültig zu erklären?) Bei all diesen Themen zeigt sich: Falls nicht von Anfang an eine klare Definition von Grenzen vorliegt, unter welchen Umständen man ein Engagement betreibt, begrenzt oder abbricht, besteht die Gefahr sich dadurch mit widersprüchlichen Argumenten und Handlungen instrumentalisieren zu lassen.
Die Metapher der Lupe und die Abwesenheit allgemein erarbeiteter Beurteilungskriterien zeigen sich in Peking exemplarisch an den zwei bereits jetzt zu Ikonen emporgestiegenen Bauten des Olympiastadions und CCTV-Hochhauses. Die global agierenden Architekten und Protagonisten Herzog & de Meuron und Rem Koolhaas treffen diesmal mit ihren Bauten nicht nur den architektonischen Nerv der Zeit, sondern finden sich plötzlich inmitten einer Situation wieder, welche ihre Auffassung von politischem und ökonomischem Engagement einer kritischen Diskussion unterzieht. Ihre Reaktionen sind ähnlich. Gegen die Kritik eines Engagements in China verteidigt sich Jacques Herzog, es sei «… sehr billig und einfach sich als Architekten, Künstler und Filmemacher zurückzuziehen oder diese Art von Kritik zu üben. Jedermann weiss, was in China passiert. Sämtliche Arbeitsbedingungen in China sind nicht, wie man sie sich wünschen würde. Aber man trägt trotzdem einen in China hergestellten Pullover. Es ist einfach, aus der Distanz Kritik zu üben. Ich bin fast versucht, das Gegenteil zu behaupten; wie wunderbar es war in China zu arbeiten und wie fest ich daran glaube, dass das Bauen des Stadions, [und] der Prozess des Öffnens die Gesellschaft radikal verändern, transformieren wird. Engagement ist der beste Weg, die richtige Richtung einzuschlagen.»5 Rem Koolhaas meint, auf die Frage angesprochen, ob es für ihn nicht störend sei in autokratischen Ländern wie China und Dubai zu arbeiten, dass es natürlich kontrovers sei und geht sogleich zur Gegenfrage über: «Aber was ist die Alternative? Krankenhäuser und Schulen sollen okay, ein Gebäude für das chinesische Fernsehen jedoch schlecht sein? Ich sehe das anders. Falls wir uns in einem Land wie diesem involvieren, sollten wir in die wichtigen Dinge involviert sein, nicht in die unwichtigen. Bevor wir an ein Projekt herangehen, schauen wir uns die Situation in diesem Land genau an. Ich habe als Professor in Harvard mehr als zehn Jahre damit verbracht, sorgfältig zu untersuchen, in welche Richtung sich China entwickeln wird. Ich bin überzeugt, es wird am Ende eine positive sein.»6 Mit solchen Begründungen mögen zwar beide Architekten darlegen, dass es naiv ist, das Engagement von aussen pauschal zu verurteilen. Genauso blauäugig – und die Vermutung liegt nahe, diese Haltung sei aus einem Bedürfnis zur Rechtfertigung hervorgegangen – scheint es jedoch, die Projekte unvoreingenommen im Kontext eines Demokratisierungsprozesses in einem autokratischen Regime zu verteidigen.
Diese Argumentationen zeigen deutlich, wie sehr die Debatte noch in den Positionen des Angriffs und der Verteidigung verhaftet ist. Es bleibt zu wünschen, dass sie sich ihrer polemischen Züge entledigt. Denn die Chance, ja die Notwendigkeit, eine kritisch agierende Rolle einzunehmen, anstatt wie bisher nur zum Reagieren auf Kritik verurteilt zu sein, darf nicht verpasst werden.
Sascha Delz ist Architekt und arbeitet als Assistent an der ETH Zürich.
1 Rem Koolhaas, «Evil Can Also Be Beautiful», Interview mit Rem Koolhaas, Matthias Matussek und Joachim Kronsbein, in: Spiegel Online, 27. März 2006: «All important architecture of the last century was strongly influenced by political systems. Look at the Soviet system, with its constructivism and Stalinism, Weimar with its Modern style, Mussolini and, of course, the Nazis and Albert Speer’s colossal structures.»
2 Jacques Herzog, «We can help change in China say architects Herzog and de Meuron», in: The Times Online, 12. März 2008: «Literally everybody in the Western world trades with China. This is a fact. So why should an architect not?»
3 Annemarie Pieper, Einführung in die Ethik, Tübingen und Basel 2007, S. 20.
4 Ebd., S. 12.
5 Herzog, «We can help change in China say architects Herzog and de Meuron», a.a.O.: «It’s very cheap and easy for architects and artists and film-makers to pull out or to make this kind of criticism. Everybody knows what happens in China. All work conditions in China are not what you’d desire. But you wear a pullover made in China. It’s easy to criticise, being far away. I’m tempted almost to say the opposite. How great it was to work in China and how much I believe that doing the stadium [and] the process of opening will change radically, transform, the society. Engagement is the best way of moving in the right direction.»
6 Koolhaas, «Evil Can Also Be Beautiful», a.a.O.: «Question: Doesn’t it trouble you to be working in countries like China and Dubai, which are not democratic, but autocratic? Answer: It’s controversial, of course. But what’s the alternative? Hospitals and kindergartens are OK, but a building for Chinese television is a bad thing? I see it differently. If we get involved with a country like this, we should be involved in the important matters, not the unimportant ones. Before we take on a project, we take a close look at the situation in the country. As a professor at Harvard, I have spent more than ten years carefully studying the direction in which China is developing. I’m convinced that it’ll be positive in the end.»
Alle Zitate ins Deutsche übersetzt von Sascha Delz.
> Der Artikel erschien ursprünglich in archithese 4.2008 Peking 2008+ Shanghai.