Die neue Zeit
Text: Frei Otto
erschienen in: archithese 6.1973, Tragende Häute, S. 4-14
Überholte Architektur
Die geistig und körperlich aktivste Menschheit aller Zeiten hat kaum noch etwas gemeinsam mit dem, was man unverändert «moderne Architektur» nennt.
Die Architektur steht ausserhalb des Tagesgeschehens. Sie hinkt der Entwicklung hinterher. Statt Zukunft zu sein ist sie Vergangenheit, Tradition geworden.
Sie ist ein Stil, der seine Höchstform bereits vor zwei Jahrzehnten überschritten hat.
Die Angst vor dem Chaotischen als Folge zweier Weltkriege war die Triebfeder, die dem Uniformen Vorschub leistete. Heute haben wir ein uniformiertes Chaos und dadurch chaotische Langeweile. Da niemand die inzwischen entstandene Langeweile mag, wird sie weggeschminkt. Seit Jahren schmückt man uniforme Gebäude mit funktionalistisch aussehenden modischen Attributen und überzieht gleichmässig Unterschiedliches mit wesensfremden Elementen.
Ihren Tiefstand erreichte die Architektur Mitte der sechziger Jahre. Der Kontakt zu den Pionieren der zwanziger Jahre ging damals verloren. Es gab keine erfolgversprechende, weiterführende Architekturphilosophie, und selbst die aktuelle Kritik versiegte. Es setzte sich mehr und mehr das Bewusstsein durch, dass die Architekten an den Aufgaben der Gesellschaft vorbeiplanen und vorbeibauen. Diese deprimierende Erkenntnis des Unvermögens fiel zeitlich zusammen mit einer vollständigen Umschichtung des Architektenberufes durch die Anpassung seiner Arbeitsmethodik an moderne Techniken. Das unwiederbringliche Ende einer Epoche war gekommen.
Die «moderne Architektur» entstand in den zwanziger Jahren. Sie war baugeschichtlich von einmaliger Bedeutung. Sie umfasste erstmalig den ganzen Erdball.
Neue Wege des pluralistischen Konzepts
Erst jetzt, in den beginnenden 70er Jahren, formt sich ein neues Konzept. Es ist die Zeit der vielen Wege, auf denen die Entwicklung zu selbständigen Architekturen führt. Es sind neue Architekturen, die sich parallel zu neuen Kulturkreisen formieren und die sich nicht mehr wie früher geographisch getrennt nacheinander, sondern auf der Basis schneller Kommunikationsmöglichkeiten jeweils weltumspannend und synchron entwickeln. Sie werden getragen von ineinandergeschichteten menschlichen Sozietäten verschiedenster Art, die kaum noch geographische oder politische Grenzen kennen. Benachbarte Menschen, ja selbst Mitglieder einer Familie, gehören zumeist schon verschie denen Gruppierungen, unterschiedlichen geistigen Strömungen oder sogar anderen Kulturkreisen an.
Das Uniforme und Singuläre wird abgelöst durch ein pluralistisches Konzept. Eine Umkehr ist nicht möglich. Dabei hat die Erkenntnis Einfluss, dass trotz einer enggewordenen Erdoberfläche für jeden Menschen durchaus eine menschliche und individuelle Umwelt geschaffen werden kann, und dass jedes Mitglied einer unfassbar grossen Menschheit Erlebnisbereiche zu erringen vermag, die früher nur Auserwählten zugängig waren.
Eine Schlüsselbedeutung hat aber auch die sich verbreitende Einsicht, die eigene Existenz nicht auf Kosten anderer Menschen zu begründen. Es geht nicht um einen neuen einseitigen Individualismus, sondern um eine natürliche Entfaltung des Individuums mit und für die Gesellschaft.
Individuum
In den meisten Bereichen menschlicher Aktivitäten hat die Zeit der vielartigen Wege längst begonnen. Die immer mehr zunehmende Differenzierung gehört zum Kennzeichen moderner Wissenschaft und Technik. Gleiches gilt auch für die Künste, wie Malerei, Literatur, Musik und andere. Nur die sich modern nennende Architektur war bisher extrem traditionsgebunden. Inzwischen zeichnen sich aber bereits jene Wege ab, die den grossen Veränderungen der Gesellschaft entsprechen.
Viele alte Teilgebiete der Architektur erweitern sich und erlangen völlige Selbständigkeit. Viele auf neuen Wegen entstehende Architekturen haben dabei keine Merkmale, die an sichtbaren Formen ablesbar sind. Dennoch sei am Beispiel der sichtbaren Form als nur einem Aspekt die mögliche Vielgestalt künftiger Formenwelten skizziert.
Jeder materielle Gegenstand, ob natürlich oder vom Menschen gemacht, hat eine Form, somit also auch jedes wissenschaftliche, technische, künstlerische und damit auch jedes architektonische Produkt. Die Existenz unendlicher Möglichkeiten zum Beispiel beim Beschreiben oder Bemalen eines Papiers ist jedem Literaten und Maler bewusst.
Die Variationsmöglichkeiten im dreidimensionalen und materiellen Bereich der Architektur sind unendlich vielfältiger. Sie sind so unfassbar gross, dass durch alle Zeiten hindurch jeder einzelne Mensch trotz einer nach Milliarden zählenden Erdbevölkerung nicht nur eigene Formen, sondern ganze Formenwelten erfinden und mit und in ihnen leben könnte.
Umfang und Originalität dieser Welten werden letztlich nur eingeschränkt durch die geistige Spannweite des Individuums. Gemessen an den Möglichkeiten ist diese jeweils klein. Sie wächst aber mit besseren Ausbildungsmöglichkeiten. Von Generation zu Generation lernt man den unvorstellbar grossen Freiraum besser zu erschliessen.
Vielfalt und Ganzheit in Natur, Technik und Architektur
Wir beginnen erst jetzt zu begreifen, dass die Summe der scheinbar zusammenhanglosen neuen Vielfalt in allen Bereichen von Natur und Technik letztlich eine neue Ganzheit aufzeigt, die nichts anderes ist als die Form unserer heutigen Umwelt oder die vom Menschen geprägte Oberfläche des Planeten Erde.
Dieses Jahrhundert scheint das erste zu sein, in dem der Mensch den Begriff der aus ungleichen Teilen bestehenden grossen Zahl zu erfassen versucht.
Es ist die Konfrontation mit der Unzahl verschiedener Möglichkeiten, die auch die Wege zu neuen Architekturen kennzeichnet, bei denen jeder einzelne innerhalb zugehöriger Begrenzungen eine bemerkenswerte Variationsbreite besitzt. Verschiedenartiges bildet sich, denn die Wege führen in divergierenden Richtungen zu unterschiedlichen Zielen.
Die Bereiche einzelner Architekturen erlangen auf einigen Wegen immer grösser werdende Unabhängigkeit. Es gibt aber auch nur wenige, die in reiner Form aufzeigbar sind. Man erkennt Vermischungen und vielfältige Abhängigkeiten.
Vor allem gibt es Begrenzungen, die allen Wegen gemeinsam sind. Die bedeutendsten Begrenzungen sind die jeweils zur Verfügung stehenden technischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Mittel. Sie entwickeln sich stürmisch und verändern sich täglich.
Mensch und Mass
Eine weitere Begrenzung ist der physische Mensch selbst. Er hat auf Grund seiner biologisch bedingten Artmerkmale nur eine geringe körperliche Variationsbreite. Länge, Breite, Gewicht des Erwachsenen schwanken nur in engen Grenzen und in noch engeren die von der Körperhaut ertragbaren Lufttemperaturen. Die physischen Grundbedürfnisse der gesamten Menschheit, einschliesslich aller Rassen, sind deshalb ähnlich und verlangen in diesem Bereich auch in Zukunft ähnliche Lösungen.
Für den Bereich des Körperbezogenen Bauens sind die Körperbedingungen unverändert das Mass aller Dinge, die Höhe und Breite von Räumen, Türen, Verkehrsmitteln sowie Möbeln bestimmen; kurz alle Gegenstände, mit denen Menschen in direktem Kontakt stehen, die man anfassen kann.
Es gibt kaum eine Architektur, die erst begonnen werden muss. Durch den Wegfall des Zwanges zur Uniform können die bisher in ein künstliches, formales Korsett gepressten Entwicklungen sich verselbständigen.
Die Wege zu neuen Architekturen führen über die Planung. Planung hat eigene Probleme. Sie ist ein überaus komplizierter Prozess, der schliesslich zur Realisation führt. Neue planungstheoretische Denkmodelle beschäftigen die Architekturschulen der Welt. Allerdings wird bisher fast ausschliesslich auch hier auf der Basis der bisherigen Entwurfsmethodik vor gegangen, die sich im vergangenen Jahrhundert zur heutigen Form entwickelte. Die Planungstheorie aber hat noch keine neuen Konzepte für die Zukunft. Zwischen der Formulierung einer Aufgabe, dem Entwurf, der Mittelbereitstellung und der Fertigstellung eines Gebäudes vergehen noch immer Jahre. Die Veränderung der Aufgaben, die ein Gebäude zu erfüllen hat, geht jedoch in einem viel schnelleren Masse vor sich als zu allen Zeiten zuvor. Man betreibt unverändert Grossplanungen, die nur dann realistisch sind, wenn über Jahrzehnte hindurch der ursprünglichen Planung in allen Einzelheiten gefolgt wird. Man irrt, wenn man meint, endlich besser planen zu können als früher.
Erkenntnis überholt Planung
Erkenntnis und Praxis sind weit voneinander entfernt. Gemessen an den Aufgaben plant man schlechter. Die Beobachtung des jüngsten Baugeschehens lässt vermuten, dass die Mehrzahl aller heute fertiggestellten Gebäude schon nach 20 Jahren nicht mehr als zeitgemäss angesprochen werden können.
Die Notwendigkeit einer erhöhten Anpassungsfähigkeit des gesamten Bauwesens an sich schnell ändernde Bauaufgaben wurde erst Mitte der 50er Jahre erkannt und führte bisher leider noch zu keinen durchgreifenden Lösungen.
Langsame Architektur und Schnelle Architektur
Vom Prozess der Realisation her gesehen gibt es eine «langsame Architektur». Man versucht zur Zeit mit den überkommenen Methoden schneller zu planen und zu bauen. Dabei ist die althergebrachte Qualität der langsamen Architektur verlorengegangen, aber die Unmittelbarkeit einer schnellen Architektur noch nicht gewonnen. Die langsame Architektur ist jene zeitlose Architektur, die an mittelalterliche Traditionen anschliesst. Langsame Architektur ist das geduldige Herausarbeiten eines Werkes zu höchster künstlerischer Vollendung. Sie ist im Gegensatz zur schnellen Architektur zwar nicht völlig «zeitlos», hat aber einen viel geringeren Bezug zum Aktuellen.
Die Architektur der Toten mit Grabsteinen, Friedhöfen, Katakomben, Verbrennungsstätten ist die des erinnernden Zeichens. Von der Sache her hat sie sich am wenigsten gewandelt, und auch heute sind kaum Veränderungen zu sehen. Sie ist eine Gemeinschaftsarchitektur mit indivi duellen Zeichen und hat dadurch eine Sonderstellung.
Die langsame Architektur ist für einige Aufgabenbereiche unverändert von Bedeutung. Dazu gehört beispielsweise das Schaffen von Markierungspunkten. Es sind Zeichen, die als räumliche oder zeitliche Konstanten durch Aussergewöhnlichkeit Orientierungshilfe innerhalb von Siedlungsräumen geben, wie beispielsweise Türme mit verschiedenen Ansichten in jeder Richtung, enge Passagen oder ornamentale Pflasterungen. Die Zeichen brauchen dabei nicht einmal gross zu sein. Sie sind nur wirksam, wenn sie das Erinnerungsvermögen anregen. Das primitivste Zeichen ist das Denkmal; das kultivierteste ist das Zeichen, das mit aussergewöhnlicher, zeitloser Schönheit ästhetischen Lustgewinn bringt. Zu allen Zeiten wurden grosse Zeichen gebaut: Dome, Pyramiden, Türme und Tempel.
In unserer Zeit mit einer grossen Anzahl mehr und mehr individuell geprägter Menschen kann das Zeichen durchaus eine direkte Beziehung zur Allgemeinheit erlangen, insbesondere, wenn es aussergewöhnlich und selten ist und einen Spielraum für eigenständige Interpretation oder sogar für individuelle Betätigung lässt. Kinder und Liebende ritzen Erinnerungszeichen in Bäume oder schreiben Namen an aussergewöhnliche Stellen. Wenn an Werken der langsamen Architektur der Platz zur kreativen Selbstdarstellung für jedermann freigehalten wird, kann daraus eine neue Architektur des «gesellschaftsnahen Memorials» entstehen, Schulkinder, die mit Malereien, Emaillen oder Kleinplastiken Wände von Bauwerken ihres Interesses schmücken, geben einer baukünstlerischen Grossform einen bereichernden Überzug aus einer Vielzahl vorgebildeter Individualformen.
Gegenüber der langsamen Architektur hat die «schnelle Architektur» völlig andere Voraussetzungen. Obwohl es im primitiven Bauen eine schnelle Architektur stets gegeben hat, mit der Gebäude unverzüglich gebaut und neuen Bedürfnissen angepasst werden, ist eine schnelle Architektur, die den heutigen Aufgaben gerecht wird, noch in den Anfängen. Das schnelle Bauen galt in keiner Zeitepoche als Kunst, obwohl mittelalterliche Städte, Dörfer, Burgen, die heutigen Siedlungen der Armen Indiens und Mittelamerikas, ja die gesamte «Architektur ohne Architekten» ein Phänomen ist, das ebenfalls erst heute in seinem künstlerischen und ästhetischen Bezug erkannt wird. Eine schnelle Architektur ist lebenswichtig. Sie ist ein realitätsbezogenes Hilfsmittel des Ueberlebens. Sie ist ein Hilfsmittel, das unmittelbar und ohne Zeitverzug wirksam sein muss. Die schnelle Architektur bewältigt Katastrophen und ist zugleich das Werkzeug, mit dem völlig neu auftauchende Aufgaben angegangen werden.
Den Weg der schnellen Architektur gibt es bereits in Anfängen: Im Industriebau, im Ausstellungsbau und bei Einrichtungen wird am schnellsten gehandelt. Neue Werkzeuge, Denk und Planungshilfen werden entwickelt, die diesen Vorgang unterstützen. Für die schnelle Architektur ist der langsame Prozess des Planens in vielen Stufen, wie er heute üblich ist, unbrauchbar. Eine passende Planungsmethodik ist aber noch nicht in Sicht.
Die schnelle Architektur arbeitet direkt von der Idee und vom Material in den Bau. Es ist nicht einmal Zeit zum Zeichnen. Schon produzieren programmgesteuerte Fertigungsmaschinen Einzelerzeugnisse in jeweils anderer Form mit der Schnelligkeit der Serienfertigung.
Was gebraucht wird, muss unverzüglich bei der Hand sein und nicht wie bisher in Monaten und Jahren.
Zur schnellen Architektur gehören die vielen neuen Möglichkeiten des anpassungsfähigen Bauens, insbesondere für den Bereich des Wohnens unter unterschiedlichen Voraussetzungen. Die Anpassung an gemeinschaftliche und zugleich individuelle Bedürfnisse verlangt nicht nur eine unmittelbare Realisierung, sondern darüber hinaus eine völlig neue Form der Architektur.
So wird beispielsweise versucht, die Anpassung auf der Basis einer extrem ausgebauten Produktion unterschiedlichster Gegenstände zu erreichen, mit denen alte durch bessere ersetzt werden. Dies ist die stufenweise Anpassung durch Zerstörung und Ersatz. Je kleiner die einzelne Stufe der notwendigen Zerstörung, beispielsweise eines Landes, einer Stadt, einer Siedlung, eines Hauses, eines Bauelementes oder eines Einrichtungsgegenstandes ist, desto gleitender und verlustärmer ist die Anpassung. Ideal anpassungsfähig wäre eine Architektur, die nicht die Zerstörung, sondern nur das Verändern kennt.
Vor fünfzehn Jahren meinte man, durch schnell montierbare Plattenbauweisen anpassungsfähiger zu werden. Der Arbeitsaufwand für die nachträgliche Veränderung war zu hoch. Die Elemente verloren zudem mit zunehmender Grösse ihre Brauchbarkeit für spezifische Lösungen. Eine echte Anpassungsfähigkeit wurde nicht erreicht, sondern lediglich eine Typisierung. Ein industrielles Produkt dient am besten einer anpassungsfähigen Architektur, wenn es handlich, klein und leicht ist und wenig technischen Aufwand für die Einpassung erfordert. Heute werden Werkstoffe gesucht, die sich wie Lehm leicht formen lassen, die in der Zeit des Gebrauches ausreichend fest sind und die sich auf Wunsch verändern lassen.
Anpassung durch Veränderung
Eine anpassungsfähige Individualarchitektur von hohem Rang gibt es im Bereich des sogenannten primitiven Bauens bereits seit langem in allen Teilen der Erde. So unterschiedliche Elemente, wie arabische Dörfer, die Lehmhäuser indischer Bauern, gehören ebenso dazu wie die Bambus- und Blechhütten der Armen Chinas oder Südamerikas. Selbst Sommerhäuschen in Berliner Schrebergärten geben ein Beispiel.
Anpassungsfähigkeit im Wohnen ist die Steigerung der Primitivarchitektur zur Fähigkeit des Individuums, sich sein für ihn geeignetes Milieu in optimaler Weise selbst zu schaffen. Je mehr jedoch die Vielfalt und das individuelle Herauskehren persönlicher Eigenarten von der Gesellschaft toleriert wird, desto mehr kann sich die individuelle Primitivarchitektur entwickeln und sich mit zunehmender Wohnkultur und Freizeit zu Höchstleistungen steigern. Die Voraussetzungen dazu sind in den Zivilisationsländern in der «Do-it-yourself-Bewegung» bereits da. Ein Prozess ist angelaufen, der lang sam, aber stetig weitergeht.
Eine echte Individualarchitektur kann sich nicht auf Wohnungseinrichtungen innerhalb vorgegebener starrer Architekturgehäuse beschränken. Sie wird stets mit dem Vorgedach ten kollidieren, wenn sie sich nicht auch auf die äussere Form einer Wohnung oder eines Hauses bezieht und den ihr zukommenden Anteil im Bereich der Stadt oder des Siedlungsraumes hat. Die bisherige Domäne der heutigen Individualarchitektur war das Verändern überfällige alter Gebäude und das Bauen in Gegenden, in denen keine Vorschriften die individuelle bauliche Betätigung und selbst schon den Gedanken daran im Keim ersticken.
Durch das Errichten mehrgeschossiger Skelettkonstruktionen, die keine permanent fixierten Decken oder Wände haben, kann man einen individuellen Wohnungs- oder Hausbau in der dritten Dimension anregen. Es ist sehr schwierig, solche Rohbaukonstruktionen so weit zu entwickeln, dass ein echtes anpassungsfähiges Erschliessen der dritten Dimension erreicht wird.
Sicher führt aber der von mehreren Seiten begonnene Weg in absehbarer Zeit zu ersten Ergebnissen. Bisher hatten die visionären Vorschläge zur Lösung dieser Aufgabe nur die Folge, dass mit üblichen Mitteln Wohnstadtgebiete entstanden, die lediglich so aussahen, als ob sie anpassungsfähig seien, aber in Wirklichkeit aussen und innen völlig unveränderbar waren.
Immer noch ist es Mode, Gebäude aus unveränderlichem Beton so zu formen, als bestünden sie aus individuellen Wohneinheiten, die durch Zufall oder freien Entschluss der Bewohner eine skurrile Form erhalten hätten.
Die in den fünfziger Jahren begonnene Bewegung der anpassungsfähigen Architektur hatte ihren ersten Erfolg lediglich als Formenlieferant zur Dekoration des Uniformen. Man täuschte insbesondere über die wahre Gestalt von Objekten hinweg, die bei dem Versuch entstanden, mit Hilfe von Architektur eine neue Gesellschaft zu schaffen, die in bisher unbekannter Dichte in unveränderlichen Architekturgrossformen leben soll.
Mobile Architektur, Zeltarchitektur
Zum Bereich der schnellen Architektur zählt die mobile Architektur. Wir kennen bereits die rollenden, schwimmenden oder fliegenden Hotels, also Fahrzeuge mit Wohnfunktionen, und wir kennen mobilgemachte Häuser, die Wohnwagen. Es gibt jeden Uebergang.
Aus den Trailerslums der amerikanischen Arbeitersiedlungen des letzten Krieges wurden vielerorts inzwischen kultivierte Wohnparks.
Die Anhebung des Lebensstandards schafft Voraussetzungen für eine Wohnkultur mit mobilen Gehäusen, die zu Land oder durch die Luft bewegt werden.
Das individuell geformte Gehäuse hat bereits beim fahrenden Volk der Schausteller und der Zigeuner, trotz der vom Strassenverkehr gegebenen engen Grenzen, teilweise einen bemerkenswerten Vollkommenheitsgrad erreicht. Die Dschunken Hongkongs und die Wohnboote der holländischen Grachten sind Vorläufer einer neuen schwimmenden Architektur, die eine hohe Mobilität und Anpassungsfähigkeit erlaubt.
Das Besiedeln von Wasserflächen bringt zweifellos grosse technische, physiologische und psychologische Probleme. Es eröffnet aber zugleich eine Fülle neuer Perspektiven. Je schwerer ein Gebäude wird, desto weniger ist es transportierbar. Mobile Architektur verlangt Leichtigkeit. Extrem leicht ist das Zelt.
Erst Ende der fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts wurde der jahrtausendealte Zeltbau für die Architektur entdeckt. Es gibt heute eine Zeltarchitektur.
Mit neuen naturwissenschaftlichen Methoden wurden die dem Zeltbau zugehörige Formenwelt und ihre praktischen Einzugsbereiche in den beiden letzten Jahrzehnten erheblich erweitert. Das jüngste Glied des Zeltbaues ist die wandelbare Architektur mit grossen Membranen, die sich ähnlich den riesigen Sonnensegeln der antiken Theater in kürzester Zeit automatisch über grosse Flächen spannen und Tausenden von Menschen Kühle bei extremer Sonneneinstrahlung oder Schutz vor Regen geben.
Es sind Mittel, die nur dann in Erscheinung treten, wenn sie gebraucht werden.
Die wandelbare Architektur brachte den unmittelbaren Bezug zu Zeit, Geschwindigkeit und Raum wie noch nie zuvor. Wenn sich beispielsweise ein grosses Dach geräuschlos in wenigen Minuten über ein Festspielpublikum spannt, so verwandelt sich eine typische Freiraumarchitektur in die eines intakten Innenraumes.
In anderen und neuen Zusammenhängen ist das Verhältnis Mensch und Umwelt, Mensch und Pflanze zu sehen. Innerhalb der letzten drei Generationen hat sich in allen Industrieländern das Verhältnis des siedelnden Menschen zu seiner grünen Umwelt entscheidend geändert. Die Ertragslandschaft der Felder und Forste wurde zu einer Erholungslandschaft. Es entstand zu gleich die Wohnlandschaft mit Gärten. Erst im letzten Jahrhundert erlangte das Wohnen im und mit dem Garten allgemeine Verbreitung und erhielt in einigen Ländern eine kulturelle Prägung.
Das Verhältnis des industriell oder geistig arbeitenden Menschen zu seiner unmittelbaren Umwelt drängte zu neuen Lösungen. Eine davon war die «grüne Architektur». Vielleicht ist sie auch für das zukünftige Siedeln bei noch grösserer Dichte eine sinnvolle Massnahme zur Erhaltung des biologischen Gleichgewichtes in einer Zeit, in der das Verhältnis von Blattgrünoberfläche zur Erdoberfläche durch künstliche Versteinerung ständig verkleinert wird.
Dreidimensionale Gartenstadt
Auf die ebene Gartenstadt des letzten Jahrhunderts folgt die dreidimensionale Gartenstadt des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts. Noch ist sie nur eine Vision einer noch wenig genutzten Möglichkeit. Innerhalb der Gartenarchitektur gibt es die neue Form des Indoorgartens, der längst nicht mehr ein Minigärtchen in Form eines an verlorene paradiesische Zustände erinnernden Blumenfensters ist, sondern ein ganzjährig echt benutzbares grünes Wohnrevier. Schon baut man Gewächshäuser, in denen die Kernzellen individueller Wohnbereiche, so z. B. in Form von Schlafhäuschen für Kinder und Eltern zwischen Pflanzen stehen. Solche Häuser umschliessen eine menschennahe, immergrüne Zone, wie sie vermutlich die Urheimat des Menschen ist. Völlig neue Erlebnisbereiche und Entfaltungsmöglichkeiten für Kinder und auch Erwachsene werden erschlossen.
Keine Imponierarchitektur
Je mehr Menschen in einem Landstrich wohnen, desto weniger ist das Herauskehren von Architektur wirksam und damit sinnfällig, desto mehr erhält die Tarnung nach aussen Oberhand. Das einzelne weisse Holzhaus Amerikas, das einer ganzen Landschaft von Horizont bis Horizont die menschliche Prägung geben konnte, wird schon durch ein zweites Haus entwertet.
Dem Imponieren entgegengesetzt ist die Architektur des dichten Siedelns in grünen Bereichen, bei dem jedes Dach, jede Wand begrünt sein kann. Die dichtest besiedelte vielschichtige Landschaft schmilzt zu einem einzigen Lebensraum zusammen, der die biologische Intensität etwa eines Urwaldes gewinnen kann.
Mit grossen Dächern versucht man klimatisierte Wohnlandschaften in Landstrichen mit extrem kaltem oder extrem heissem Aussenklima zu bauen oder die ästhetische Gemeinsamkeit von Dach und Landschaft zu erringen.
Bewegung, Verkehr, Sport, Freizeit
Wenn durchaus auch Beziehungen zur grünen Architektur bestehen, so hat die Architektur der körperlichen Bewegung eine andere Grundlage. Das Problem der körperlichen Bewegung des einzelnen Menschen und der von Gruppen oder von Menschenmassen in ungezwungener oder vorgegebener Form prägt neue Werke der Architektur, deren Merkmale nicht an gegen ständlichen Formen, sondern an den Formen der Bewegungsvorgänge ablesbar ist. Wir kennen die Prozession im Kirchenbau und die Bewegung von Menschen in den Foyers der Theater. Die intensivsten Bewegungsformen haben Menschenmengen in Kaufhäusern, Geschäftsstrassen, grossen Ausstellungen, Sportveranstaltungen und Nahverkehrsmitteln. Besonders schnelle und vom Stand der Technik abhängige Bewegungsvorgänge hat der Verkehr.
Die heutige Umwelt ist gekennzeichnet von der ersten Entwicklungsphase der Verkehrsarchitektur, die sich in Autobahnen, Strassen, Brücken, Leuchttürmen, Eisenbahnen, Schiffshäfen, Flughäfen, Weltraumbahnhöfen äussert. Grosse Strassen sind von langfristiger Wirksamkeit. Beim Flugverkehr gehen die Veränderungen jedoch in einem solchen Tempo vor sich, dass nur mit Mitteln des anpassungsfähigen Bauens sinnvolle Lösungen gefunden werden können.
Die Sportarchitektur mit Tennis- und Golfplätzen, Turnhallen, Bootshäusern, Regatta strecken, Skiliften, Wanderhütten, Schiesständen usw. beeinflusst zugleich immer mehr die Erholungsarchitektur. Neben Leistungssportanlagen für eine geringe Zahl von Athleten entstehen volkstümliche Erholungsanlagen, deren Extreme die Klimagrosshüllen für alle Arten körperlicher, entspannender und schöpferischer Freizeitbewältigungen sind, wie man sie bereits in Japan kennt. Von dort kam durch Kenzo Tange kürzlich der damit zusammenhängende Gedanke der Freizeitkreativgesellschaft zu uns, der einen wesentlichen Einfluss auf Architektur und Städtebau gewinnen wird.
Die grossen Stadien für Fussball, Baseball und für olympische Spiele sind keine Sportarchitektur, sondern ein Teil der Imponier- und Theaterarchitektur. Stadien für Stier- und Gladiatorenkämpfe, für den Kampf der Spitzenathleten waren zu allen Epochen ausgeprägter Zivilisation und hohen Lebensstandards gefragt und beliebt. Schon im Altertum erlangte die Architektur der Stadien und Amphitheater ihre Selbständigkeit. Die Theaterarchitektur des Athletensports erhielt in diesem Jahrhundert durch die Olympiaden einen grossen Auftrieb. Das neue Massenkommunikationsmittel des Fernsehens hat nun Teilaufgaben übernommen. Grosse Veränderungen werden erwartet. Eine Fortsetzung der bisherigen Architektur für Olympiaden ist fraglich. Die Übergänge vom Stadion zum Amphitheater, zum gedeckten Theater, zum Zimmertheater, zur Schulaula, zum Hörsaal sind nahtlos.
Architektur des Tötens
Die Imponierarchitektur der Massen, der Paraden, Festungen und Bunker, der Grenzsperren und der Wachttürme kann eine Architektur des Tötens sein, die auch die hinterhältige Komponente, verdeckte Abschussbasen, Unterseeboothäfen oder unterirdische Produktionsstätten kennt. Die Architektur des Tötens ist weiter entwickelt als die Architektur geistiger Aktivitäten, als die Schul- und Universitäts bauten, die zur Zeit vom Fliessband zu kommen scheinen. Durch neue Lehrmittel und zunehmende Differenzierung im Pädagogischen steht die Architektur des Lehrens und Lernens vor einer notwendig gewordenen grundsätzlichen Erneuerung. Eine Architektur, die höchste geistige Konzentration und gleichzeitig körperliche Entspannung oder Betätigung fördert, ist aber möglich. Neue und vor allem sehr unterschiedliche und gleichzeitig zur Anwendung gelangen de Lehrmodelle verlangen eine viel grössere Differenzierung als bisher und völlig neue Lösungen, bei denen vom Zweierverhältnis von Lehrer-Schüler bis zum automatischen Fernsehlehrprogramm für Millionen jede Abstufung enthalten ist.
Architektur der Arbeit, Drang zu baulicher Konzentration entfällt
Die Architektur der Medizin und der modernen, technisierten Therapie hat das Innere der Krankenhäuser in den letzten Jahren wie noch nie zuvor, verwandelt und alle Bauten, die älter als 20 Jahre sind, unbrauchbar gemacht.
Es fehlt immer noch eine echte humanbiologische Architektur für eine Umwelt, in der Rekonvaleszenten genesen und Behinderte leben können.
In den letzten Jahrzehnten hat die Architek tur der Arbeit, wie z. B. der Land- und Forstwirtschaft, der Fischerei, des Berg- und Maschi nenbaues, der Chemie und der Atom-Kraftwerke eine grosse Selbständigkeit erreicht. Neu sind vor allem die technischen Giganten der vollautomatisierten Industrie, die von wenigen Menschen betreut werden.
Seitdem sich mehr und mehr die Arbeit in Büros verlagert, wird im Zusammenhang mit durchgreifenden organisatorischen und arbeitstechnischen Veränderungen eine zeitgemässe Büroarchitektur in der Nähe der Wohnbereiche gesucht. Durch Telefon und Fernsehen ist der Drang zur baulichen Konzentration entfallen.
Die Wahrung der körperlichen Gesunderhaltung bei geistig anstrengender Arbeit ist noch nicht erreicht. Noch versitzen Millionen ihr Arbeitsleben in «entklimatisierten» Räumen. Klimastress und Abwechslung im Büro werden wichtig und mit neuen Mitteln gesucht. Die achtziger Jahre werden vermutlich eine veränderte Büroarchitektur bringen, die das bisherige Denkmodell ablöst.
Konstruktive Architektur entsteht, wenn schwierige technische Probleme bei Aufgaben zu bewältigen sind, die den natürlichen Umweltbedingungen entgegenstehen. Bei sehr grossen Bauobjekten kann die Grenze der Machbarkeit erreicht werden, wie früher bei den jeweils weitestspannenden Brücken, Dächern, Staudämmen und höchsten Türmen. Nach dem Wissen der Zeit bestimmt die Konstruktion dann die Gestalt einer Architektur, die im vorigen Jahrhundert ihre letzte Prägung durch die Bauten Eiffels, Roeblings und Paxtons erhielt. Man baute bei äusserster Ersparnis an Masse. Das extrem feste Baumaterial, das man bei solchen Bauten braucht, war damals relativ viel wertvoller als heute. Man kämpfte gegen die Gewalten der toten Natur. Ähnliche Selektionskriterien waren formgebend, wie im Bereich der leben den Natur. Die Formverwandtschaft zu den Objekten der Biologie wurde offensichtlich.
Konstruktiver Architektur weicht Architektur des Ausdrucks.
Wenn auch die naturwissenschaftlichen Bedingungen immer noch unverändert Bedeutung beim Entwickeln neuer Konstruktionen haben, so gilt das kaum noch in der Praxis. Die grosse Zeit der konstruktiven Architektur ist vorbei.
Selbst bei ganz grossen Objekten wird die Grenze der Machbarkeit kaum noch erreicht, und zudem haben ästhetische Kriterien auf Grund eines wachsenden künstlerischen Engagementes von seiten der Ingenieure formbestimmenden Einfluss gewonnen. Man verlangt, dass Konstruktionen schön seien, ohne zu wissen, wie sie «richtig» sind.
Die von Manipulationen freigehaltene Konstruktionsform wird gar nicht erst gesucht; dennoch kann nur sie Basis zum Verständnis technischer Ästhetik und der kritischen Abschätzung des Umfanges künstlerischer Manipulation sein.
Natürliche Medien nutzt beispielsweise die Erdarchitektur der Deiche, Dämme und Höhlen, ebenso wie die Wasserarchitektur der künstlichen Seen und Kanäle oder die Luftarchitektur der Ballone und luftgetragenen weitspannenden Dächer. Bei der Klimatisierung von Freiräumen mit entsprechenden Luftsrömungen werden Dächer entbehrlich.
Neben den technisch-sachlichen Architekturen beginnen die Architekturen der Sinne und des Sinnlichen eine neue Phase ihrer Entwicklung. Eine echt asketische Architektur, die die Beherrschung des Sinnlichen verlangt, konnte aber als Abfallprodukt rationalistischer Bestrebungen nicht erlangt werden.
Im Problemkreis der Architekturen sind Gefühl, Liebe, Hass und Empfindungen aller Art wichtige Komponenten, die mit den Verhaltensweisen des Imponierens und Machtgebrauches Architektur prägten. Es ist ein Phänomen, dass die Architekturen der Sinne und des Sinnlichen in den letzten vier Jahrzehnten, wie noch nie in der gesamten Geschichte der Baukunst, ver nachlässigt werden konnten.
Eine vitale Generation beginnt neue Erlebnisbereiche in kaum dagewesenem Ausmass zu erschliessen. Wohlstand und Medizin haben die Voraussetzungen dazu geschaffen. Demzufolge sind neue Architekturen zu erwarten, die die sem Phänomen gerecht werden.
Erotische Architektur
Das Erschliessen neuer Welten des Gefühls ist ein auf Grund der biologischen Konstitution des Menschen bedingter Beginn einer neuen kulturellen Epoche, die getragen wird von sehr langlebigen, dabei geistig und körperlich gesunden Menschen, die verhältnismässig eng beieinander siedeln. Es ist nicht schwer vorauszusagen, dass sogar eine ausgeprägte erotische Architektur entstehen wird.
Es hat schon immer eine auf Sinne bezogene Architektur gegeben. So galt das Gefühl der Erhabenheit für Generationen als Kennzeichen der Architektur. Es gab aber auch eine Architektur der Furcht und der Grausamkeit, und dem entgegen eine Architektur der unbeschwerten Einstellung zum Weltlichen und Göttlichen. Es gab die heitere und liebenswürdige Architektur des Barocks.
Eine Architektur echten Humors hat aber noch kaum existiert. Warum ist unbekannt.
Gelungene Karnevalsdekorationen könnten vielleicht zu einem Anfang führen.
Im grossen Fächer der Architekturen der Sinne wird es in verstärktem Masse die des Hörens für Konzertsäle und Studios geben, ferner aber auch die des Fühlens und Riechens.
Für die sehr grosse Sozietät der Blinden ist beispielsweise die sichtbare Formenwelt ihrer Umgebung von untergeordneter Bedeutung. Die Beschäftigung mit der Formenwelt, die das Kriterium des Sichtbaren ausschliesst, aber dadurch zugleich eine gesteigerte Bedeutung der übrigen Wahrnehmungskriterien bringt, schult die Fähigkeit zum Einbeziehen des Unsichtbaren.
Zu allen Zeiten spielte die Ästhetik zur Wertung von Architektur eine überragende Rolle. Sie war Antrieb, um innerhalb bereits ausgeprägter Erfahrungskomplexe zu künstlerischen Höchstleistungen zu kommen. Einem auf Neuland vorstossenden Pionier gibt sie keine Vorbilder, sie warnt ihn aber vor Oberflächlichem. Ästhetik in der Architektur galt als polarer Aspekt zu den rationalistischen Denkmodellen der zwanziger und fünfziger Jahre. Sie ist noch weitgehend verfemt. Mit Ästhetik wissen Architekten heute nichts anzufangen. Es ist aber bemerkenswert, dass ästhetischer Lustgewinn zu allen Zeiten eine gesellschaftskonforme Forderung an die Architektur und an alle Künste war. Sie ist es noch immer.
Erkennen kontinuierlicher Prozesse
Eine neue Ästhetik, die dem Wissen unserer Zeit angemessen ist, ist bereits im Entstehen. Sie findet eine neue Grundlage, seitdem Architekten beginnen, sich analysierend und wertend mit den Entstehungsprozessen — also den Wegen — von Architektur zu befassen.
Das Erdenken statischer Werke wird abgelöst durch das Erkennen und Weiterführen kontinuierlicher Prozesse.
Reale Architekturen aus Baumaterial, die man also anfassen und in voller Grösse sehen kann, unterliegen den Einschränkungen der jeweils zur Verfügung stehenden und sich täglich verändernden Technik.
Es gibt ungebaute Architekturen. Sie sind die Welt der visionären Architektur. Nur mit ihr können Denkwelten ohne verfälschende Einschränkungen übermittelt werden. Der voll kommene Entwurf eines Gebäudes, einer Stadt und jeder erdachten Umweltsituation ist nur im Bereich des Visionären möglich, das durch Modelle, Fotos und Pläne in beliebiger Präzision vermittelt werden kann. Film und Fernsehen können durch real dargestellte Visionen Millionen von Menschen Architektur näherbringen. Für den Bereich des an unvorhergesehene Veränderungen anpassbaren Bauens gibt es die nichtpräzisierte Vision, deren Aufgabe es ist, die Phantasie so weit anzuregen, dass die angerissenen Möglichkeiten ohne einseitige Vorprägung individuell ausgelegt und gefüllt werden können. Das geschriebene Wort der Literatur und das gesprochene Wort im Rundfunk sind Medien, die diesen Spielraum geben.
Die Summe aller einzelnen Architekturen bildet die von Menschenhand geprägte Erdoberfläche.
Europastadt, Wachstum ohne Machtanspruch?
Damit Unterschiedlichstes sinnvoll zusammenkommen kann, bereiten Städtebau, Siedlungs- und Landesplanung den Weg. Erst seit wenigen Jahrzehnten gibt es an sich eine moderne Stadtplanung. Sie ist bisher nur an wenigen Stellen über ihre bisherige Aufgabe, städtische Umweltkatastrophen zu verhindern, hin ausgekommen. Es gab Baufehler zu beseitigen und Erneuerungen anzuregen. Grosse Wachstums- und Umschichtungsprozesse sind im Gange. Der Städteorganismus ist aber bereits anpassungsfähiger als der Einzelhausbau. Eine Stadt, die sich nicht ständig wandelt, lebt nicht. Städte wachsen zu Siedlungsräumen von kontinentalem Ausmass zusammen. Es gibt bereits die Europastadt, die Japanstadt, die Ostamerikastadt. Aufgaben von unbekanntem Ausmass sind von einer neuen Architektur der Ganzheit zu bewältigen.
Noch fehlen aber die notwendigen umfassenden und vor allem humanbiologischen Denkmodelle, die insbesondere auf Kenntnissen des Verhaltens von Einzelnen und Gruppen aufbauen. Völlig unbekannt sind beispielsweise die Kenntnisse, die das Selbstwachstum von Städten betreffen, wenn dieser Prozess von Machtansprüchen einzelner Gruppen freigehalten wird. Die Grundgesetzmässigkeiten naturwissenschaftlicher Formbildungsgesetze sind im Städtebau fast unbekannt.
Man weiss nicht, was man soll, und auch nicht, was man kann; so bleiben zur Zeit nur Hoffnungen. Diese werden genährt von optimistischen Visionen, die aufzeigen, wie selbst bei einer nochmaligen Vervielfachung der Erdbevölkerung eine überaus anregende, gesunde Erdoberfläche von lebensbejahender Schönheit entstehen könnte.
Neue Architekturen als selbständige Tätigkeitsbereiche
Wir stehen am Ende der alten, der noch als modern bezeichneten Architektur, die zum internationalen Einheitsstil wurde, und wir stehen zugleich am Beginn einer Neuorientierung mit bisher unbekannten Freiheitsgraden.
Aus einem singulären wurde ein pluralistisches Konzept.
Es ist dabei nicht mehr vorstellbar, dass je wieder eine Rückkehr zu einem singulären Konzept möglich sein könnte. Die jetzt entstehen den Architekturen sind selbständige Tätigkeitsbereiche jeweils eigener und völlig verschiedener Prägung und brauchen zur Koordination ein verbindendes Element zur sinnvollen Einordnung der Pluralität der vielen neuen Architekturen in ein neues Ganzes.
Dieses Jahrzehnt, also die 70er Jahre dieses Jahrhunderts, werden für die Baukultur der nächsten Generationen von entscheidender Bedeutung sein. Die Zeit der vielen neuen Architekturen hat bereits begonnen. Es ist eine Zeit, in der in jedem Jahr nebeneinander und gleichzeitig mehr geschieht als früher nacheinander in Jahrhunderten. Es ist eine Zeit, die im gesamten gesehen, frei geworden ist von oberflächlichen, uniformierenden Bindungen und die sich somit auf einen veränderten Menschen in seiner Ganzheit konzentrieren kann, mit noch nicht da gewesener materieller und geistiger Grundlage.
Zweifellos ist diese neue Zeit voller ungelöster Probleme. Sie wird wie seit jeher auch viel Schlechtes bringen. Es wird eine lange Weile dauern, bis man lernt, neue Objekte höchster Vollendung in der Architektur zu schaffen, die mit der Entwicklung der Gesellschaft Schritt halten können. Es wird auch noch sehr lange dauern, bis von der Architektur die von ihr erwarteten Impulse für ein in weite Zukunft reichendes, neues Verhältnis von Gesellschaft und Umwelt ausgehen werden.
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