Nekrolog / Der schwarze Raum
Nekrolog
Autor: Christian Kerez – erschienen in archithese 5.2006 Genossenschaft, Gemeinschaft, S. 72–73.
Kazuo Shinohara ist am 15. 7. 2006 im Alter von 81 Jahren gestorben. Dieser Text ist keine kunsthistorische Würdigung. Er ist eine fragmentarische Aneinanderreihung von persönlichen Erinnerungen und persönlichen Einschätzungen – zu einem japanischen Architekten, dessen Bauten nie zu einem Exportartikel geworden sind wie beispielsweise die von Tadao Ando, Toyo Ito oder SANAA. Trotzdem hat Kazuo Shinohara einen grossen Einfluss ausgeübt, nicht nur mit seinen Bauten, sondern auch mit seinen Schriften. Das Schreiben, das Nachdenken über Architektur waren ihm gleich wichtig wie das Bauen. Mehr als vier Bücher mit Textsammlungen sind in Japan publiziert worden; nur ein Bruchteil davon ist bis jetzt ins Englische oder in eine andere Fremdsprache übersetzt worden.
Meine erste Begegnung mit Kazuo Shinohara war ein Schock. Während eines Praktikumaufenthaltes in Holland besuchte ich einen Vortrag von ihm. In allen bisherigen Vorträgen von Architekten, die ich gehört hatte, präsentierten diese eigene Projekte und erklärten anhand dieser Projekte ihre Position oder ihre Haltung. Im Gegensatz dazu zeigte Kazuo Shinohara gleich vier Positionen, die aber untereinander keine schlüssige Entwicklung zeigten, sondern sich zum Teil wie Antithesen zueinander verhielten. Es war mir zum damaligen Zeitpunkt unverständlich, wie jemand sich selbst und seine Arbeit dermassen durch Widersprüche in Frage stellen konnte. Auch der Titel des Vortrages entzog sich einer programmatischen Klarheit: «In Vorbereitung auf den 4. Raum». Damit umschrieb Kazuo Shinohara seine neuste Schaffensphase, die, wie der Begriff «Vorbereitung» ankündigte, noch nicht endgültig ausformuliert werden konnte.
Gerade diese Widerspenstigkeit, die mich beunruhigte, ist der Grund dafür, dass ich mich 22 Jahre später immer noch mit Kazuo Shinohara beschäftige, während viele andere Vorlieben aus der Studentenzeit längst verblasst sind. Diese Widerspenstigkeit, die vielleicht auch eine bewusste Strategie gegen ein vorschnelles Zur-Seite-Legen und Vergessen-Werden ist, zeigt sich nicht nur innerhalb seines architektonischen Schaffens, sondern immer wieder in seinem Verhältnis zur aktuellen Architektur. In den Sechzigerjahren, als alle Welt gespannt auf die junge Metabolistenszene der japanischen Architektur blickte und Kenzo Tange am CIAM-Kongress in Otterlo Pläne für die Überbauung der Bucht von Tokio mit einer Megastruktur zeigte, begann Shinohara mit einfachen Einfamilienhäusern, die sich ganz bewusst mit der japanischen Architekturtradition auseinandersetzten. Diese Häuser waren alles andere als bescheiden in ihrem Anspruch. «Das Wohnhaus ist Kunst» ist ein Text, welcher die Bedeutung seiner Architektur deutlich wiedergibt.
Mit seinen Schriften und Gebäuden distanzierte Shinohara sich klar vom Zweckfunktionalismus und von der pragmatischen rationalen Doktrin der zeitgenössischen japanischen Moderne, welche stark unter dem Einfluss westlicher Vorbilder stand. Gleichzeitig lehnte er auch den Traditionalismus vieler anderer japanischer Architekten ab, welche sich auf eine stilistische, bildhafte Art auf die japanische Vergangenheit bezogen. Seine Arbeit versuchte grundlegende Erfahrungen der japanischen Architektur und ein abstrahiertes Verständnis der Vergangenheit wiederzugeben. Die Gebäude sind einfach und ohne traditionsbedingte handwerkliche Besonderheiten gebaut. Sie vermitteln keine diffusen Stimmungen, sondern grundlegende Erkenntnisse jahrhundertealter Baukultur. Dieses Verständnis japanischer Tradition steht auch im Widerspruch zu einer voreiligen propagandistischen Vereinnahmung der japanischen Architektur durch die Pioniere der europäischen und amerikanischen Architekturgeschichte. Frontalität und Raumteilung sind wesentliche Grundzüge dieser Architektur.
Anfang der Siebzigerjahre beginnt Kazuo Shinohara eine Reihe von Häusern zu bauen, welche das genaue Gegenteil seiner früheren Werkreihe darstellt. Die neue Sequenz beginnt mit einem Bau, welcher nicht frei von Ablösungsschwierigkeiten und vielleicht gerade deshalb für die Entwicklung eines neuen thematischen Schwerpunkts bemerkenswert ist: das unvollständige Haus. Die neuen Gebäude werden geprägt durch eine kubische Volumetrie, das grosse vereinheitlichende Dach der ersten Schaffensphase ist in den meisten späteren Bauten verschwunden. Die Räume entstehen nicht durch Teilung, sondern durch plastische Aushöhlung des Grundvolumens. Eine klare Hierarchie zwischen zweigeschossigem Hauptraum und eingeschossigen Nebenräumen, zwischen der Raumfigur des Hauptraums und den verbleibenden Resträumen, ersetzt die Gleichartigkeit des Raummodells aus dem früheren Schaffen. An die Stelle der Addition tritt ein subtraktives Prinzip.
Die Gebäude, die in der letzten grossen Werkmonografie von Kazuo Shinohara der dritten Schaffensphase zugeordnet werden, gehören zu seinen spannendsten Werken. Es ist für mich unklar, was die genaue Arbeitshypothese ist, auf welcher dieser Gebäude aufbauen, weil aus dieser Zeit eher wenige Schriften stammen und noch weniger übersetzt worden sind. Shinoharas bekannteste und radikalste Projekte gehören in diese Werkgruppe, beispielsweise das Haus im Uehara, in welchem sich asymmetrisch gesetzte Stützen verzweigen und die kleine Grundrissfläche auf eine monumentale Art prägen. Die Stütze ist hier alles andere als ein stummer Diener oder eine Beiläufigkeit, sie ist eine raumgreifende, monumentale Geste, welche diesem kleinen Haus eine verwirrende Dichte und Komplexität gibt. Ein anderes Haus, das er für den berühmten japanischen Schriftsteller Shuntaro Tanikawa gebaut hat, ist ein riesiges Giebeldach über einem leicht abfallenden Erdhang. Dieses Haus hat keinen Boden, das Gelände fliesst durch das Haus hindurch, und es besteht eigentlich nur noch aus einer Hülle über einem erdigen, schräg abfallenden Boden. Ein weiteres verblüffendes Gebäude setzt mit Wand und Decke den maximalen Bauabstand zu einer Hochspannungsleitung in Szene. Auf surreale Art scheint hier das unsichtbare Medium Elektrizität ein Abbild zu erhalten, das räumlich und plastisch ist. Auch ein weiteres Gebäude bezieht sich auf eine grundlegende und einmalige Art auf seine Umgebung: Der Hauptraum des Hauses in Itoshima ist ein Zugangsweg, ein Raum, ausgerichtet auf den Blick auf eine weit entfernte Insel vor der Küste.
Während sich in den Achtzigerjahren die aktuelle Architekturszene der Geschichte der Architektur annimmt und Kazuo Shinohara mit Biografien und Austellungen auch in Europa und Amerika geehrt wird, wendet er sich bereits neuen architektonischen Themen zu. Wiederum im Widerspruch zu seiner Zeit beschäftigt er sich diesmal mit der Gegenwart, mit der progressiven Anarchie Tokios und mit dem Phänomen der Maschine, das er in Anlehnung an moderne Jagdbomber, nicht etwa mit Bezug auf Le Corbusier definiert haben will. Erstmals bereist er ausgiebig Afrika, Europa, Nord- und Südamerika. Er wird als Gastdozent nach Harvard und nach Wien eingeladen und beteiligt sich an grossen internationalen Wettbewerben – unter anderem auf Einladung von Rem Koolhaas in Lille.
Im Alter von 79 Jahren war der Abenteuergeist Kazuo Shinoharas noch längst nicht zur Ruhe gekommen. So forderte er mich gleich zu Beginn unserer ersten persönlichen Begegnung in Tokio mit der Frage heraus, wieso ich mich eigentlich für seine Arbeit interessiere, wo ich selbst doch eine ganz andere, seiner Auffassung nach härtere, formalere Auffassung von Architektur verträte. Er fragte mich auch, wieso ich mich als junger Architekt mit Schulhausbau beschäftigen könne, da sei doch wirklich alles vorherbestimmt, da gäbe es für einen jungen Architekten nichts Neues zu überlegen. Ganz anders ein kleines Wohnhaus, das sei wie eine reine Leinwand, und die Arbeit des Architekten trage die Direktheit und Klarheit eines Pinselstriches. Am Schluss unseres Gesprächs sagte er mir ganz freundlich, dass er sich auf ein Wiedersehen freue, damit er sich selbst neue architektonische Manifeste ausdenken könne.
Im folgenden Jahr sah ich Shinohara ein letztes Mal bei einem Vortrag mit dem Titel «Die Figur in der Landschaft». Er zeigte kein einziges Bild, und trotzdem bestand sein Vortrag aus Bildern, oder besser gesagt: aus Beschreibungen. Er beschrieb Erinnerungen, flüchtige Momentaufnahmen von Reisen, aus dem Alltag, ohne je, mit Ausnahme von Mies van der Rohe, einen bekannten Architekten zu nennen oder explizit auf einen bekannten Bau anzuspielen. Hinter all diesen Erinnerungen steckten immer wieder ganz grundsätzliche Fragen über die Bedeutung von Architektur. Die persönliche Erinnerung selbst ist Anschauungsmaterial genug, um über Architektur zu sprechen. Obwohl er im Begriff war, im kommenden Jahr noch einmal ein Haus zu bauen, diesmal für sich selbst, sprach er bei diesem Vortrag nicht mehr über seine eigenen Projekte.
Der schwarze Raum
Autor: Kazuo Shinohara – erschienen in archithese 5.2006 Genossenschaft, Gemeinschaft, S. 74–75.
Vermutlich würde man die Idee, ein gesamtes Wohnhaus unter der Erde zu vergraben, als absurd betrachten.1 Dass wir Architekten uns eines Tages mit einem solchen «pathologischen Raum» auseinandersetzen müssen, habe ich bereits in meinen Abhandlungen und sonstigen Schriften erwähnt. Diese Bezeichnung wird natürlich im metaphorischen Sinne verwendet und dem derzeitigen «gesunden» Rationalismus und Funktionalismus als eine Antithese gegenübergestellt. Dem hellen transparenten Raum – in Entsprechung zu unserem heutigen alltäglichen Leben – steht eine Behausung gegenüber, die sich der Sonne verweigert und komplett in der Erde versunken ist. Und dieser «Schwarze Raum», wie ich ihn hier nenne, kann auch als ein Experiment zum «pathologischen Raum» verstanden werden.
Zu meiner Überraschung jedoch rief dieser Entwurf auf meiner Ausstellung erstaunlich grosses Interesse hervor. Sicherlich werden die Besucher nicht davon ausgegangen sein, dass man diesen Plan eines Wohnhauses, das im Übrigen eine kostspielige technische Ausstattung erfordert, tatsächlich realisieren kann. Aber ganz offensichtlich spricht der «Schwarze Raum» das Lebensgefühl der Menschen an und erweckt ihre Sympathie. Das zeigt, wie aktuell diese Thematik ist.
Man denke beispielsweise an das Patio-Haus, das sich zurzeit grosser Beliebtheit erfreut. Sollte ihm allerdings die Vorstellung zu Grunde liegen, man müsse das gesamte Grundstück, da es so klein ist, mit Mauern umschliessen und als Fläche für das Wohnhaus nutzen, würde ich auf jeden Fall meinen «Schwarzen Raum» als die konsequentere Lösungsmethode betrachten. Denn in unserem Land wird man kein angenehmeres Leben führen können, indem man einfach eine schmale Fläche vollständig mit Mauern umgibt! Mängel sollten vielmehr durch die technische Ausstattung kompensiert werden. Im Gegensatz zu solchen Halbheiten wird daher jeder die Überlegenheit eines Entwurfs bestätigen, der alles mit technischen Mitteln löst. Ausserdem kann beim «Schwarzen Raum», abgesehen von einem kleinen Bunker im Eingangsbereich, die Sonne ungehindert überall hingelangen. Verspürt man also ein Bedürfnis nach Sonnenlicht, so steigt man einfach hinauf auf die Erde. Dagegen zeugt für mein Empfinden der im Patio-Haus in die Mitte eingelassene, winzige Sonnenhof von einem viel «krankhafteren» Geschmack.
Es ergeben sich ferner, etwa für die Innenarchitektur, ganz neue Dimensionen. Nicht nur bei der Wohnarchitektur, sondern der Architektur generell handelt es sich um einen Komplex, bei dem der prinzipiell widersprüchlichen, gegensätzlichen Beziehung zwischen Aussen- und Innenseite eine Form gegeben werden muss. Natürlich wäre es ein vortreffliches Bauwerk, bei dem Innenund Aussenseite zugleich fertig gestellt würden. Bei einem Gebäude von dem kleinen Massstab eines Wohnhauses jedoch, das zudem bestimmte Funktionen erfüllen muss, ist die Simultanität von Innen- und Aussenseite, so ideal sie auch wäre, schwer zu realisieren. Dieses Haus aber nun, das man vollkommen unter der Erde vergräbt, besitzt weder ein Dach noch eine Aussenwand, auf die es Acht zu geben gilt. Da also nur eine Innenseite existiert, kann der Designer sich ihr ganz allein widmen; Einschränkungen durch eine Aussenseite existieren nicht. Mit anderen Worten: Der Innenarchitektur sind keinerlei Grenzen mehr gesetzt. Zu diesem entgrenzten Raum, der die Aussenseite negiert, wird es selbstverständlich ausser meinem Bauplan noch zahlreiche andere geben. Weil eben bei einem unter der Erde vergrabenen Haus nur die Innenarchitektur bestimmt, welche Gestalt es annimmt. In meinem Entwurf des «Schwarzen Raums» allerdings, wie ich ihn auf der Ausstellung vorgestellt habe, wurden diese Bedingungen ganz besonders konsequent angewendet. Zunächst einmal, weil sich mein Modell, bei dessen Konstruktion die einzelnen Raumeinheiten durch schmale Gänge verbunden sind, auf gar keinen Fall mit einem auf der Erde errichteten Haus verwirklichen lässt. Denn wie erwähnt, ist es keinen strukturellen Zwängen unterworfen und von der Aussenseite her konzipiert worden, das heisst, es ist nicht aus einem Prozess hervorgegangen, bei dem von der Aussenperspektive her gestaltet wird. Und selbst wenn man sich nur auf den Aspekt beschränkte, wie die «Verbindung» gestalterisch umgesetzt werden soll, würde auf jeden Fall eine vollkommen andere Form entstehen, richtete man die Perspektive auch auf die Aussenseite. Hinzu kommt, dass man ebenfalls bei der Gesamtkomposition des Raums, da sich die Gestaltung hier wiederum ausschliesslich auf die Innenseite konzentriert, frei von Einschränkungen ist. Gewissermassen existiert also in doppelter Hinsicht absolute Freiheit.
Wenn die Privatsphäre von zwei Zimmern gewünscht wird, zieht bestimmt jeder eine Wand durch den Raum. Weil es sich dabei aber meist nur um eine dünne Holzwand handelt, kann von wirklicher Privatsphäre gar nicht gesprochen werden, auch wenn es bei einem Blick auf den Grundriss den Anschein hat, als sei diese garantiert. Genau an einer derartigen Lösungsmethode wird das ganze Elend einer naiven, funktionalistischen Planungsweise offenbar. Anstatt mit solch einer scheinbaren Privatsphäre vorlieb zu nehmen, würde ich mich eher noch, trotz ihrer schlechten Isolationsfähigkeit, solcher Mittel wie Fusuma und Shōji2 bedienen, um zwei unabhängige Zimmer zu erhalten. Anders gesagt, das eigentliche Wesen von Privatsphäre liegt für mich nämlich nicht in einer heuchlerischen Wand, sondern in einem Gefühl der Distanz. Sind in einem Haus zwei Schlafzimmer eingeplant, legt man folglich, wie bei dem östlichen Zimmer und dem westlichen Zimmer, den grösstmöglichen Abstand dazwischen. In dem sich in der Mitte befindenden Salon wiederum können dann ganz nach Belieben nur Fusuma oder aber Fusuma und Trennwände verwendet werden. Für die Privatsphäre jedoch spielen nicht diese Fusuma beziehungsweise Trennwände die Hauptrolle, sondern der räumliche Abstand. Tatsächlich fehlt es somit einem herkömmlichen kleinen Wohnhaus, bei dem ein solcher räumlicher Abstand unmöglich ist, grundsätzlich an den Voraussetzungen, zwei Schlafzimmer einzurichten.
Als mir der Gedanke kam, dass für die Raumstruktur westlicher Wohnhäuser eine «Verbindungs- Technik» charakteristisch ist, fiel meine Aufmerksamkeit auf jene dicken und ferner harten Stein- oder Lehmwände, die die einzelnen Zimmer voneinander trennen. Wie stark ein Raum isoliert ist, hängt hier von der potenzierten Menge von Material und Breite ab, und andererseits besitzt wiederum diese Isolationskraft in ihrer Gesamtheit zugleich auch verbindenden Charakter. Ein Funktionalismus allerdings, der an die isolierende Eigenschaft einer dünnen Holzwand glaubt, ist natürlich nichts anderes als eine japanische Eigentümlichkeit. Mit dem vorliegenden Konzept möchte ich daher der Vorstellung Ausdruck verleihen, dass sich Privatsphäre am Raumvolumen misst. Werfen Sie nur einen Blick auf das Raumvolumen zwischen den beiden Schlafzimmern, die Beschaffenheit der Erde und diesen Abstand . . .
Es existiert der Ausdruck «Privatzimmer». Damit ist ein abgeschiedenes Zimmer für eine Person oder ein Ehepaar gemeint. Ganz in diesem Sinne handelt es sich in meinem Entwurf bei den Privatzimmern für ein Ehepaar oder ein Kind um absolut abgeschiedene Räume. In diesem Haus, dessen Eingangsbereich die einzige Verbindung zur Natur draussen ist, stellen diese beiden oder auch beliebig mehr, noch viel weiter nach hinten gelegenen Zimmer einen Raum von solch «absoluter Abgeschiedenheit» dar. Man schliesse nur die Tür am Ende des Gangs, der zum Salon führt! Dieser Raum erlangt dann die wahre Privatsphäre und Abgeschiedenheit. Ich will sogar soweit gehen und behaupten, dass er an den Raum zum Tode grenzt. Aber zugleich gibt es wohl kaum einen anderen Raum, in dem man so sehr das wirkliche Leben spüren kann. Denn hier inmitten «vollkommener Einsamkeit» beginnt man, darüber nachzudenken, was – als ihr Gegenstück3 – das menschliche Leben eigentlich ist.4
Übersetzung: Renate Jaschke
Renate Jaschke ist promovierte Japanologin mit kultur- und literaturwissenschaftlicher Ausrichtung. Zurzeit überträgt sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Rahmen eines von Christian Kerez geleiteten Forschungsprojekts an der ETH Zürich Schriften von Kazuo Shinohara in die deutsche Sprache.
1 Dieser Beitrag war ursprünglich ein Abschnitt in Kazuo Shinoharas längerer Abhandlung «Moderne Wohnhauskonzeption, Nr. 2» [jap. Gendai jōtaku sekkei ron 2], die im Juni 1964 in der japanischen Architekturzeitschrift Moderne Architektur [jap. Kindai kenchiku] veröffentlicht wurde. Als Einzelpublikation unter dem Titel «Der schwarze Raum» [jap. Kuro no kōkan] erschien der Text in der Schriftensammlung Das Wohnhaus [jap. Jōtaku ron], die Kazuo Shinohara 1970 beim Verlag Kajima in Tokio herausgab. [Anm. d. Übers.]
2 Fusuma sind Schiebetüren, die aus einem Holzrahmen und einer dickeren Papierschicht bestehen. Sie werden als Raumteiler sowie vor Wandschränken verwendet und können leicht entfernt werden. Als Shōji bezeichnet man Schiebetüren oder -fenster, die aus einem Holzgitter bestehen. Dieses Gitterwerk ist mit dickem, grossporigem und lichtdurchlässigem Papier bespannt. Wie die Fusuma dienen die Shōji als Raumteiler und können ebenso leicht aus den Schienen genommen werden. [Anm. d. Übers.]
3 Vgl. Kazuo Shinohara, Wohnarchitektur [jap. Jōtaku kenchiku], Tokio, Verlag Kinokuniya 1964. [Anm. v. Kazuo Shinohara]
4 Ich danke der Sprachdozentin Hiro Iguchi und dem Philosophen Ulrich Windrath für die Diskussion über diesen Text von Kazuo Shinohara, die sich sehr inspirierend auf meine Übertragung ausgewirkt hat. [Anm. d. Übers.]
> Der Essay ist ursprünglich erschienen in archithese 5.2006 Genossenschaft, Gemeinschaft.