Das Wunder von Biel
Bereits viele Jahre beabsichtigte der Bund, mit der Realisation des Westastprojekts in der Stadt Biel/Bienne eine der letzten Lücken im Schweizer Autobahnnetz zu schliessen. Sind Stadtautobahnen andernorts ein Konzept der 1960er-Jahre, das aus den Wohnarealen beseitigt werden soll, so wollte der Bund in Biel 60 Jahre später ein ähnliches Autobahnstück mitten durch die Stadt realisieren. Es folgte lauter werdende Kritik – denn mit den beiden offenen Stadtanschlüssen des Westasts würde der Verkehr ins Zentrum der Stadt gespült werden. Für moderne Stadtplanungskonzepte undenkbar. In der Form einer nie dagewesenen Bürgerbewegung «Westast so nicht!» organisierte sich die zweisprachige Stadtbevölkerung über fünf Jahre hinweg erfolgreich gegen die geplante Umfahrung, bis der Bund das Projekt im Dezember 2020 schliesslich zurückzog. – Wir wagen den Versuch einer chronologischen Nacherzählung.
Text: Simon Binggeli – 31.05.2021
Bilder: Komitee «Westast so nicht!»
Die gemeinsame Geschichte der Stadt Biel/Bienne und Diskussionen über eine Autobahn durch die Stadt reicht zurück bis weit ins vergangene Jahrhundert. Bereits in den späten 1950er-Jahren wurde der Grundstein für die Planung einer Autobahnumfahrung in der mit rund 55 000 Einwohner*innen zehntgrössten Stadt der Schweiz gelegt. Es sollte aber noch lange dauern, bis die Idee zum Westast, der beide bestehenden Teile der schweizerischen A5 verbinden sollte, konkret ausgeformt wurde. Zahlreiche Projekte wurden geboren und wieder beerdigt. 2014 genehmigte der Bundesrat schliesslich die Basis zur weiteren Ausarbeitung. Jetzt wurde die Situation konkret. Mit dem bereits im Bau befindlichen Ostast und der Lage der sich um das nördliche Ufer des Bielersees schmiegenden Stadt führte die Umfahrung quer durch Siedlungsgebiet. – Für einige Bieler*innen war das der Weckruf. Denn nun wurde klar: Wenn es keinen Widerstand gibt, ist es zu spät.
Formiert
Im November 2015 gründete sich schliesslich das Komitee «Westast so nicht!». Das erklärte Ziel war es, die in der geplanten Autobahnumfahrung inkludierten Anschlüsse innerhalb der Uhrenmetropole Biel zu verhindern. Waren bei der Gründung noch zwölf Bielerinnen und Bieler dabei, so zählte das Komitee ein Jahr später bereits 1000 Mitglieder, im nochmals darauffolgenden Jahr waren es 2000. Die Bewegung für eine moderne Stadtplanung ohne zusätzlichen Verkehr nahm Fahrt auf.
Ab Frühling 2016 führte das Komitee Stadtwanderungen durch, um den Bürgerinnen und Bürgern bildlich aufzuzeigen, was mit dem Bundes-Projekt auf sie und die Stadt zukommen sollte. Am Ende der Wanderungen wussten geschätzt 98% aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer: Soweit darf es nicht kommen. Viele wurden Mitglied im Komitee, einige haben Leserbriefe geschrieben, andere debattierten mit Freund*innen und Bekannten über das absurde Projekt, noch andere haben Flyer in die Briefkästen gelegt und wurden in irgendeiner Form aktiv. Es entstand eine Bürgerbewegung.
Gegenvorschlag
Das offizielle Projekt war verkehrsplanerisch und städtebaulich eine Katastrophe. Zwei Autobahnkilometer sollten im Tagebau, also in einer offenen Baustelle, durch die Stadt realisiert werden. Über die Bauzeit von 15 bis 20 Jahre hinweg sollte die Stadt in einem Ausmass verwüstet werden, dass sie Jahrzehnte gebraucht hätte, um sich auch nur teilweise davon zu erholen. 74 Häuser sollten abgerissen und über 700 Bäume auf Stadtboden gefällt werden. Die beiden in Tunneln geführten Kilometer wären im Tagbau erstellt und im Grundwasser geführt worden, was einen unglaublichen Aufwand und äusserst komplizierte Bauwerke erfordert hätte. Ohne eine Vielzahl an Dükern, einer Art riesiger unterirdischer Syphone, die Wasser unter dem Bauwerk durchfliessen lassen, hätte die Autobahn wie eine unterirdische Staumauer gewirkt und wäre mit dem Wasserdruck Richtung Bielersee geschoben worden. Mit all den für die Umsetzung des Projekts notwendigen Massnahmen wären die Bieler Autobahnkilometer zu den teuersten der Schweiz geworden.
Im Frühling 2017 ging der Westast in eine weitere entscheidende Phase. Das Projekt lag öffentlich auf und das Komitee bot Rechtshilfe für einsprechwillige Bürgerinnen und Bürger an. Gemeinsam wurden umfangreichen Akten und Pläne durchforstet und Argumente gegen das vorliegende Westast-Projekt aufgelistet. Beim Bund gingen schliesslich 650 Einsprachen ein. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Komitee von praktisch allen Fach- und Umweltverbänden die Unterstützung. Berner Heimatschutz und der Verkehrsclub Schweiz VCS machten die gewichtigsten Einsprachen. Diese beiden Fachverbände mit Verbandsbeschwerderecht hatten versprochen, falls nötig bis vor Bundesgericht zu gehen, um das Westastprojekt in Biel zu bekämpfen. Sie waren für die Gegner die Rückversicherung, falls alles andere schieflaufen sollte.
Ebenfalls Anfang 2017 beschliesst die Städtebaugruppe des Komitees, bestehend aus Architekt*innen, Verkehrsplaner*innen, Kunstschaffenden, Journalist*innen, Ingenieur*innen und Jurist*innen, ein Gegenprojekt auszuarbeiten, um nicht als ewige Nein-Sagerzu gelten. Mit dem Tunnelbauspezialisten Martin Gysel konnte der Öffentlichkeit nach einem halben Jahr Arbeit das Projekt «Westast so besser» vorgestellt werden: ein fünf Kilometer langer Tunnel ab der Verzweigung Brüggmoos bis Vingelz / Rusel auf der anderen Seite der Stadt. Durchgehend unter dem Grundwasser geführt und ohne Anschlüsse für den Durchgangsverkehr ins Stadtzentrum und mit dem darüber liegenden Stadtboulevard sollte der Alternativvorschlag allen Verkehrsteilnehmenden eine gute Lösung bieten. Mit dem oberirdischen Boulevard könnte statt einer Wüste voller rollender Fahrzeuge ein spannender Stadtraum entstehen. Der im Gegensatz zur Variante des Bundes rein unterirdisch verlaufende Tunnel könnte bergmännisch gebaut werden. Also ohne zwei Kilometer Baustelle mitten durch die Stadt, und ausserdem wäre das Gegenprojekt wegen des Wegfalls der Düker und anderer teurer Massnahmen erheblich günstiger.
Falsch berechnet
Im Oktober 2017 wurde mit dem Ostast das erste Teilstück der Bieler Umfahrung eröffnet. Es wurde befürchtet, dass der Mehrverkehr des Ostastes ohne die Entlastung durch den Westast den in der Verlängerung und nahe des Bieler Bahnhofs gelegenen Guido-Müller-Platz zum Kollabieren bringen würde. Das Chaos blieb aus, der Guido-Müller-Platz hatte geringfügig weniger Verkehr als vorher. Das dem Autobahnprojekt zugrunde gelegte Verkehrsmodell stimmte offensichtlich nicht.
Auch zu diesem Zeitpunkt beabsichtigte der Kanton immer noch, das offizielle Projekt durchzuboxen, und wollte den Bürgerwiderstand nicht wahrhaben. Die vorgeschlagene Alternative war sehr schnell als «zu wenig wirksam» abgekanzelt worden, was die Bevölkerung von Biel überhaupt nicht goutierte. Als Resultat fand 2018 die zweite Demonstration gegen den Westast statt – mit über 5000 Teilnehmenden die bisher grösste Demonstration in Biel. Zuvor zeigte eine Umfrage des Bieler Tagblatts auf, dass 49% für die Alternative «Westast so besser» waren, 16% wollten gar keine Autobahn und nur 21% der Bevölkerung der Region standen hinter dem offiziellen Projekt. Selbst dem Regierungsrat und Baudirektor Christoph Neuhaus wurde klar, dass er die Bevölkerung gegen sich und das offizielle Projekt hatte.
Die Stadt bewegt sich
Im Juni 2018 erhält das «Komitee Westast so nicht» den jährlich verliehenen BSA-Preis für die grosse, professionelle Fronarbeit mit dem Ziel einer zukunftsgerichteten Stadtentwicklung. Anlässlich der Preisverleihung wird ein vom Architekturkritiker Beno Loderer zur Bieler Bürgerbewegung verfasstes Theaterstück uraufgeführt.
Der Regierungsrat Neuhaus lädt Ende 2018 Gegner*innen, Befürworter*innen und die Behörden der Region zu einem Runden Tisch ein. Nach zahlreichen Sitzungen und viel Arbeit der Beteiligten werden zwei Jahre später kurz-, mittel- und langfristige Massnahmen von der Dialoggruppe verabschiedet. Beide Seiten sind sich inzwischen einig, dass Anschlüsse mitten in der Stadt eine sinnvolle Stadtentwicklung verhindern und wertvollen Boden verschlingen. Das erste Mal wird nicht nur für den (Auto-)Verkehr nach Lösungen gesucht, sondern auch für einen lebenswerten Stadtraum, für eine gesunde Stadtentwicklung zwischen Biel und Nidau, einem Gebiet an bester Lage zwischen Stadt und See. Die Empfehlungen im Schlusspapier sind vielversprechend. Man einigt sich vorerst auf kurz- und mittelfristige Massnahmen. Diese sind vorwiegend Verbesserungen für den Fuss- und Veloverkehr und bieten städtebauliche Aufwertungen. Falls danach noch weitere Lösungen nötig sein sollten, ist langfristig ein Tunnel angedacht. Und die wichtigste Empfehlung, die seitens des Kantons an den Bund herangetragen wird: Das offizielle Projekt soll aufgegeben werden. Und tatsächlich zieht der Bund Ende 2020 das eigene Projekt zurück. Es wird abgeschrieben, wie es im Fachjargon heisst. Ebenfalls wird der Enteignungsbann aufgehoben, was für die Weiterentwicklung und Beplanung des Gebiets zwischen Bahnhof und See eine wichtige Voraussetzung ist.
Wie sich die Städte Biel und Nidau in diesem Gebiet weiterentwickeln und welche Bedürfnisse die Mobilität der Zukunft mit sich bringt, wird sich zeigen. Ohne Autobahn mitten in der Stadt sind für Biel jedenfalls die Voraussetzungen für eine zukunftsgerichtete Stadtplanung geschaffen, deren Ziel in erster Linie eine Stadtentwicklung für den Menschen und die Natur sein muss.
Es war eine sehr intensive und spannende Zeit. Am Anfang stand ein Kampf und am Ende hat das Miteinander von Gegner*innen und Befürworter*innen die breit gestützten Empfehlungen ermöglicht. Das Motto der Gegner war immer, dass verhindert werden kann, was nicht gebaut ist. Dies weiss man seit Kaiseraugst. Und das «Wunder von Biel» zeigt: Der Wille kann Berge versetzen – oder auch mal eine Autobahn.
Der Architekt Simon Binggeli ist Gründungsmitglied des Komitees «Westast so nicht» und war an vielen Stellen des Prozesses beteiligt.