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Das System Stadt analysieren

Lässt sich das dichte Geflecht komplexer Wechselwirkungen, welche für den Städtebau massgebend sind, mit einer neuen Analysemethode entwirren? Mit dieser Frage beschäftigt sich Stephan Anders in seinem Buch Stadt als System. Methode zur ganzheitlichen Analyse von Planungsprozessen. Sein Vorschlag: Aufbauen auf der kybernetischen Planung entwickelt von Frederic Vester. Doch können solche Werkzeuge fähige Planungsteams ersetzen oder bleiben sie Mittel zur Optimierung?

 

Text: Holger Wolpensinger – 4.1.2017

 

Komplexe Wechselwirkungen ergründen
Insbesondere in frühen Planungsphasen, wenn wesentliche Entscheidungen zu fällen sind, fehlen für das Entwerfen geeignete Methoden zur Analyse von Varianten. Dabei wären transparente Entscheidungsgrundlagen durchaus herauszuschälen, was insbesondere partizipative Prozesse erleichtern könnte.
Diese Lücke möchte Stephan Anders nun mit seinem neuesten Buch schliessen. Ausgehend von der systematischen Analyse der komplexen Wechselwirkungen einer nachhaltigen Quartiersentwicklung, erarbeitete er eine Methode, welche es ermöglichen soll, die Auswirkungen verschiedener Konzepte schon früh zu analysieren, um sie hernach im Team zu diskutieren und schliesslich zu hochwertigen Lösungen zu gelangen.
Als Grundlage diente dabei die von Frederic Vester entwickelte Methode der kybernetischen Planung. Demnach wird nicht versucht die Welt in Einzelteile zu zerlegen, um diese isoliert betrachten zu können, sondern viele Einflussfaktoren zugleich berücksichtigt und dabei auf Gesamtverhalten eines Systems fokussiert. Die softwaregestützte Methode wird seit mehr als drei Dekaden in unterschiedlichen Bereichen vom Management und Mediation, über Verkehrsplanung und Entsorgungswirtschaft, bis hin zur Forschung und Ausbildung angewandt. Doch im Architektur- und Städtebaudiskurs fand sie bisher kaum Beachtung – was sich nach Anders Dafürhalten nun ändern soll.

 

Von Variablen und Abwägungsprozessen
Das Buch gliedert sich in fünf Teile. Nach den Abschnitten Forschungsfragen, Problembeschreibung und Definition im ersten Kapitel, wird im zweiten eine kritische und umfassende Inventur von computergestützten Planungswerkzeugen vorgenommen. Anders Fazit: Die meisten Werkzeuge berücksichtigen bisher nur einen Teilaspekt – wie Verkehrsaufkommen, Energiebedarf oder die zu erwartenden Kosten. Eine ganzheitli­che Betrachtung aller für die Nachhaltigkeit eines Projektes relevanten Faktoren sei derzeit hingegen noch nicht möglich.
Den Kern der Arbeit befasst sich mit den Wechselwirkungen zwischen insgesamt 20 ausgewählten Variablen wie der Lage, Dichte, Mischung, Bodenpreis und dem Ressourcenbedarf. Diese wurden in ein qualitatives Modell überführt und deren Wechselwirkungen beschrieben. Das Verhalten dieses Modells wurde dann mit der Sensitivitätsanalyse nach Vester untersucht. So wird bestimmt, welche Variablen sich als Schalthebel, Stabilisatoren oder auch Indikatoren eignen und innerhalb welcher Wirkungsketten es zu unvorhersehbaren Kettenreaktionen kommen kann.
Ergänzend zu diesen theoretischen Überlegungen wurde im vierten Teil des Buches ein Teil eines Quartierssystems ebenfalls quantitativ beschrieben und analysiert: Welche Auswirkung hat etwa die Erhöhung der baulichen Dichte auf den Energieverbrauch und die Nutzungskosten? So gehen mit einer Erhöhung der baulichen Dichte sowohl negative (Abnahme passive Gewinne, Erhöhter Strombedarf für Aufzüge und so weiter) wie auch positive Auswirkungen (Effizienz Infrastruktur, A/V Verhältnis und so weiter) einher. Man lernt, wie umfangreich und komplex solche Abwägungsprozesse in der Planung von Stadtquartieren sind und wie schwer es ist, diese nachvollziehbar auszuformulieren. Dabei wird ein entscheidender Vorteil der Sensitivitätsanalyse offenkundig: Sie eignet sich besonders für frühe Planungsphasen in denen viele Parameter ohnehin noch nicht fest stehen.

 

Heidelbergs Patrick Henry Village als Anwendungsbeispiel
Anders zeigt mit seiner Untersuchung, dass die für die Sensitivitätsmethode erforderlichen Daten mit vertretbarem Aufwand erhoben werden können, ohne dass sich die Modellrechnungen dabei in eine undurchschaubare «Black-Box» verwandeln müsste.
Im letzten Kapitel shiftet er schliesslich von der Theorie zur Praxis und erprobt seine Methode beispielhaft am Patrick Henry Village (PHV) in Heidelberg. Dabei führt er vor, wie diese an eine reale Planungsaufgabe anzupassen wäre. Das PHV wurde in den 1950er-Jahren von der US-Armee als Wohnsiedlung gebaut und beheimatete zwischenzeitlich bis zu 8 000 Amerikaner. Es ist mit rund 97 Hektar der grösste von fünf ehemaligen Stützpunkten in der Gegend und füllt annähernd die Fläche der Heidelberger Altstadt. Der Standort liegt abgeschnitten von öffentlichem Personennahverkehr an der süd-östlichen Stadtgrenze. Anders schlägt nun vor, innerhalb von mehreren öffentlichen Workshops das Modell an die spezifische Situation anzupassen und die Auswirkungen möglicher Szenarien (Szenario 1: Familienfreundliches Wohnen im Grünen, 2: Internationaler Campus, 3: Sport- und Erholungslandschaft) zu analysieren und zu bewerten.

 

Die beste Analyse-Software ersetzt keinen Entwerfer
Können die vielfältigen Auswirkungen von Planungsentscheidungen – wie beispielsweise die Änderung der baulichen Dichte – frühzeitig und ganzheitlich abgeschätzt, diskutiert und optimiert werden? Anders Buch leistet einen wichtigen Beitrag zu dieser Debatte, im Sinne eines Denkanstosses. Doch obschon der Leser lernt, dass mit der Unterstützung durch Computer-Tools Quartiersentwicklung optimiert werden kann, scheint am Ende ein kreatives, umsichtiges Team von Gestaltern, welches auch in der Lage ist partizipative Prozesse zu moderieren noch immer unersetzlich.

 

Stephan Anders, Stadt als System. Methoden zur ganzheitlichen Analyse von Planungskonzepten, Detmold 2016.

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