Das neue Heft: Science-Fiction
Das 20. Jahrhundert hat unzählige Zukunftsvisionen hervorgebracht – in Büchern, Filmen und Zeichnungen. Der Architektur – oder besser gesagt dem Entwerfen visionärer oder utopischer Welten – kam dabei eine handlungstragende Funktion zu. archithese regt mit dem neuesten Heft Science-Fiction an, sie als Inspirationsquelle für den Architekturdiskurs in den Fokus zu rücken.
Text: Jørg Himmelreich – 4.12.2016
Dieses Heft ist ein Trojaner. Mag es vordergründig Unterhaltung versprechen, haben wir darin eine grundlegende gesellschaftliche Debatte leicht verpackt und mehr oder minder direkt die Aufforderung zu mehr Fiktion in der Architektur in Stellung gebracht. Fiktion wird gemeinhin als Antonym zur Realität verstanden und häufig mit dem Unechten, Unrealistischen oder gar dem Fantastischen assoziiert. Doch sind diese beiden Sphären enger miteinander verwoben, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Fiktion ist vielfach Spiegel von Verhältnissen, Agenden, Wünschen oder Unsicherheiten der Gegenwart. Über viele Jahrzehnte wurde unser Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und technologischem Fortschritt von den in Science-Fiction (vor-) formulierten Trajekten beeinflusst – seien sie positiver oder negativer Natur. In Büchern, Comics, Computerspielen oder Filmen kamen der Architektur – oder besser gesagt: dem Entwerfen visionärer oder utopischer Welten – handlungstragende Rollen zu. Das Genre war und ist ein Labor für zukunftswirksame Ideen; von der Biologie über die Mechanik, die Politik, Gesellschaft und Ethik. Wir werfen Holz ins Feuer.
Für das Widerentdecken der Fiktion
Doch offensichtlich ist das derzeit nicht opportun, sondern beinahe anachronistisch. Fiktionen scheinen rar geworden zu sein. Eine neue Sinus-Studie will just herausgefunden haben, dass die heutigen Jugendlichen neo-konventionell sind. «Sie versuchen sich nicht gegenüber Erwachsenen abzugrenzen und bilden keine Subkulturen. Zum ‹Mainstream› zu gehören [wird] nicht als Schande empfunden. Junge Menschen wollen auffallend unauffällig sein.» Das stösst selbst bei der Neuen Zürcher Zeitung auf Kritik, obwohl das Blatt selbst gerade vom liberalen Kurs in ein neokonservatives Fahrwasser schwenkt. Bisher hat diese Entwicklung in der Architekturdebatte noch keine grössere Krise ausgelöst, doch in der Redaktion werden wir zunehmend unruhig. Wir sind überzeugt davon, dass sich unsere Disziplin permanent den gesellschaftlichen, ökologischen, ökonomischen, kurz, allen gesellschaftlichen Entwicklungen stellen und auf sie reagieren muss; oder noch besser: sie bewusst formen sollte. Kann eine Schriftenreihe zum Gegensteuern beitragen? Als wir bereits vor genau einem Jahr nach Innovationen in der Architektur fragten, stellten wir dem Axiomatischen noch klar das Mimetische anheim. Doch dieses Heft ist allein der Fiktion gewidmet. Wir fragen nach ihrer (möglichen) Rolle für Entwurf, Wissenschaft und Ausbildung und zeigen Zukunftsvisionen und Utopien – bewusst mit einer Prise Exotik und einer gewissen Radikalität.