Choreographie des Zufalls
Auf den Schauplätzen von Frank Gehrys Architektur
Autor: Kurt W. Forster – erschienen in archithese 1.1991 Scheinbar zufällig. Neuere Projekte von Frank Gehry, S. 16–29.
Klare Gruppierungen und Interpretationen wird man in der gegenwärtigen amerikanischen Architektur schwerlich ausmachen, dafür treten aber kontrastreiche Figuren wie Peter Eisenman und Frank Gehry um so deutlicher aus den Gefilden postmoderner Praxis hervor. In mancher Hinsicht gemahnt das Verhältnis der beiden an die Polarität, welche die moderne Musik der fünfziger und sechziger Jahre beherrschte, als etwa Karlheinz Stockhausen und John Cage sich einerseits als absolute Gegenpole und andererseits als Manifestation einer starken Affinität darstellten. Wenn schon damals unerbittliches Kalkül und reiner Zufall - beide noch verstärkt durch die Verfahren ihrer künstlerischen Produktion - einander als Antipoden gegenübertraten, so wirkten die gegensätzlichen Werke in ihrer tönenden Präsenz für den naiven Zuhörer doch verwirrend ähnlich.
Ähnlich liegen die Dinge heute in der Architektur, denn Eisenmans und Gehrys Bauten haben sich beide etwa gleich weit von der formelhaften Verwendung des architektonischen Vokabulars entfernt. Und wie damals Stockhausen und Cage unterscheiden sich die beiden Architekten darin, dass sich der eine als Adept und Autorität seines Faches, der andere dagegen als Philosoph der Praxis zu erklären vermag. Bei Stockhausen und Boulez war alles komponiert, derweil Cage seine Töne wie Insekten aus den Käfigen der neuen Musik entfliegen liess. Und Eisenman hat ein umfassendes System seiner Architektur erdacht, in welchem bereits eine Kurve als epochale Neuerung erscheinen kann, während Gehry auf die Art mit seinen Entwürfen umzugehen pflegt, dass eine regelmässig durchfensterte Wand wie eine Denkpause in seiner Arbeit wirkt. Der grundsätzliche Unterschied liegt nicht nur darin, dass der einen Position ein luftdicht versiegeltes System zugrunde liegt, derweil die andere sich letztlich nur auf eine künstlerische Intuition berufen kann, sondern auch darin, dass die eine an einem Überschuss, die andere aber an einem Mangel an Theorie leidet.
Wenn es deshalb notwendig ist, die Arbeiten Eisenmans zu erklären, so ist man bei Gehry mit derartigen Anstrengungen schlicht verloren. Seine Architektur hat ihre Deutung bis heute in mehr oder weniger vagen Anspielungen an die experimentelle Tradition des modernen Bauens gefunden, wenn sie nicht einfach mit irgendwelchen äusserlichen Phänomenen wie etwa den kalifornischen Erdbeben oder dadaistischer Bricolage verknüpft wurde. Er selbst trägt wenig dazu bei, diese Ratlosigkeit aufzulösen, reizt es ihn doch jederzeit, seine eigenen Ideen ebenso spielerisch zu verwandeln wie seine Bauten. So lässt er etwa verlauten, hinter dem Karpfen stünden Jugenderinnerungen an jüdische Hausmannskost oder die surrealistischen Figuren seiner Bauten seien Reminiszenzen an freundschaftliche Beziehungen.
Eine amerikanische Tradition
Was immer man verantwortlich machen mag für das Phänomen von Gehrys Architektur, es liegt wesentlich ausserhalb professioneller Bezüge und versagt sich jeden Anspruch auf Theorie. Damit lägen wir wieder auf der Linie einer deutlich amerikanischen Tradition, nämlich jener Haltung, die die Tradition selbst in Frage stellt, wie dies etwa bei Gertrude Stein, Charles Ives, Man Ray, Jackson Pollack, John Cage, Merce Cunningham oder Laurie Anderson geschieht. Selbstverständlich verharrten auch diese Künstler nicht abgekapselt auf ihrem Kontinent, der etwa von Marcel Duchamp, den Surrealisten und den Fluxus-Künstlern immer wieder neue Impulse empfangen hat. Doch selbst ein so gründlich mit europäischer Malerei vertrauter Künstler wie Stuart Davis erklärte 1943, dass ihn neben der Malerei unter anderem die folgenden Dinge zur eigenen Arbeit angeregt hätten:
«American wood and iron work of the past; Civil War and skyscraper architecture; the brilliant colors of gasoline stations, chain-storefonts, and taxi-cabs; the music of Bach; synthetic chemistry; the poetry of Rimbaud; fast travel by train, auto, and aeroplane which has brought new and multiple perspectives; electric signs; the landscape and boats of Gloucester; Massachusetts; 5 & 10 cent store kitchen utensils; movies and radio; Earl Hines' hat piano ... »1
Aber schon die Theorie-Ferne, ja Theorie-Feindlichkeit verlieh den amerikanischen Künstlern einen Hauch des Dilettantischen, bestenfalls des Improvisatorischen, schien doch ihre Kunst eher aus dem Stegreif als aus einem System heraus zu entstehen. Dieser Eindruck wurde zudem unterstützt durch das stilisiert Saloppe des amerikanischen Benehmens, das mit dem unübersetzbaren Wort casual bezeichnet wird. Casual ist, wer auf den Zufall entspannt reagiert und unmittelbar einsetzt, was gerade zur Hand ist; casual verhält sich derjenige, der sich nicht über einen fehlenden Knopf oder ein Loch in den Socken ärgert.
Wer sich casual gibt, setzt sich aber auch in ein Spannungsverhältnis zum Formellen und Kontrollierten, lässt auf kleinstem Raum eine Freiheit der Haltung und Reaktion öffentlich werden, deren Motive zunächst ganz privat sind. Eine solche casual attitude behält deshalb auch stets einen knisternden Widerstand, ein Element der desinvolture, das sowohl erleichternd wie auch verstimmend wirken kann. Weil man es mit einer Attitüde zu tun hat, ist auch der Körper im Spiel, ja vielleicht Bereits Jacob Burckhardt bemerkte diesen Phänotypus – «die Bildung eines neu-amerikanischen leiblichen Typus» –, wenn er ihn sogleich abwertend beurteilte. Wer mit amerikanischen Verhältnissen den vertraut ist, der wird auch auf europäischen Gehsteigen den «richtigen Amerikaner» leicht an seinem somatischen Phänotypus erkennen. Und damit sind wir an einem Punkt angelangt, der uns eine Aussicht auf Gehrys Architektur eröffnet. Ihre Elemente bestehen gleichsam aus bewegten Körpern, welche einer eigenen Choreographie gehorchen.
Unkonventionelle Volumendynamik
Gehrys Bauten der der achtziger Jahre entwickeln eine spezielle Volumendynamik, die er an seinem eigenen Haus (1978) sozusagen rein experimentell gestaltete, bevor er sie vornehmlich in ganzen Gruppen von Gebäuden orchestrierte. Beispiele dafür wären der Campus der Loyola-Rechtsfakultät (1981–84), das California Aerospace Museum (1982–84) und der Edgemar-Komplex in Santa Monica (1985–88). Es handelt sich durchwegs um Baugruppen, die sich sowohl in ihrer Beziehung zur städtischen Umgebung unkonventionell verhalten. Gehört es allgemein eher zu den kritischen Schwächen der amerikanischen Architektur, dass sie kaum zu einer Wirkung über ihren eigenen Bauplatz hinaus fähig zu sein scheint – es sei denn durch meist oberflächliche Anspielungen, die flink und kostenlos «kontextuelle Reverenz» erweisen sollen –, so gelingt es Gehry mit seinen jüngsten Projekten, einfallsreich und tatkräftig auf die unterschiedlichsten städtischen Bedingungen einzugehen. Das Kinderpsychiatrische Institut der Yale Universität in New Haven (1984–89) und das Grossprojekt für eine Konzerthalle (Walt Disney Concert Hall) für Los Angeles stehen hier an erster Stelle. Dies nicht zuletzt deshalb, weil sie ihre unterschiedlichen Volumina in jenen Zustand tänzerischer Kinetik versetzen, der den Gebäudegruppen den Anschein einer Momentaufnahme verleiht. Diese Mimesis des Körpers und seiner Bewegungen, die uns zum Verständnis der Bauten führt, ist eine Folge des Arbeitsprozesses, den Gehry seit Jahren in seinem Studio praktiziert. Seine Projekte werden im ständigen Austausch zwischen Skizze und Modell entwickelt, ihre Teile sind Gegenstand der Umformung und Umgewichtung, ihre Komposition ein Resultat vielfältiger Manipulationen des Auswägens und Balancierens.
Gehrys eigentümliche Methode bringt die konventionelle Abfolge der Arbeitsstufen durcheinander, weil er seine Gedanken ständig hin und her bewegt zwischen den Modellen, den Skizzen und ihrer technischen Ausarbeitung in Grundrissen und Schnitten. Er bildet die vielfältigen Elemente seiner Bauten im direkten Zugriff und durch manipulierendes Eindringen in seine Modelle aus. Jackson Pollock hat von sich behauptet, dass er im Bild und nicht vor ihm arbeite: «On the floor I am more at ease. I feel nearer; more part of the painting, since this way I can walk around it, workfrom the four sides and literally be in the painting.»2 Dieses physische Eindringen ins Werk gibt dem Künstler das Gefühl, Teil und Medium eines Prozesses zu sein, der vor dem Akt der Arbeit beginnt und ihn auch überdauert. Hat Pollock gesagt «When I am in my painting, I'm not aware of what I'm doing»,3 so beobachtet man auch bei Gehry, der gleichzeitig Zeichenstift und Schere in den Händen halten und mit Modellteilen wie mit Plastilin umgehen kann, dass er im Arbeitseifer genauso tief in seiner Sache steckt wie Pollock. In ebensolchen Balanceakten entwickelte David Smith in seiner späten Serie von Stahlskulpturen Prismen und Kuben in exuberanten Schichtungen und Kaskaden. Seine Cubi XVII von 1963 trägt Züge einer Momentaufnahme, als entspräche sie einem Trapezakt, wie er sich auch bei Gehry manchmal formell verselbständigt, etwa am Edgemar Center in Santa Monica. Dieser Moment zwischen Steigen und Fallen, der sich so schwer in Worte fassen lässt und doch zu den alltäglichsten leiblichen Erfahrungen des Menschen gehört, drückt sich bei David Smith auf ähnlich direkte, ganzkörperliche Weise aus wie bei Gehry. Schreibt Smith doch schon 1952: «When I work the train of thought has no words.»4 So reicht auch in Gehrys Arbeiten weder die Abstraktion des Wortes noch diejenige der technischen Darstellung aus, um die Idee eines Baus hervorzubringen, sondern sie nimmt direkt am Modell durch physisches Manipulieren der Volumen Gestalt an. Und wie Smith könnte auch Gehry behaupten: «I cannot conceive a work and buy material for it. I can find or discover a part.»5
Im Drehen und Wenden der Volumen klären sich ihre Verbindungen, fügen sie sich wie von selbst zum Gruppenbild. Differenziert in ihrer Ausfachung und zweckbestimmt in ihrer programmatischen Rolle bewahren die Baukörper dennoch einen hohen Grad an selbständiger Gliederung. Ihre konstruktiven Verstrebungen ähneln manchmal einer nachträglichen Lösung, einem afterthought. Sie entstammen der Reparatur, dem Ad-hoc, und schliessen deshalb das Linkische nicht aus. Ihre Anordnung verkündet den Zweck lauter als die Lösung und verwendet gerade deshalb alle Teile mit improvisatorischer Verve. So stellt sich denn der Eindruck des gelungenen Zufalls ein, der aus der Not eine Tugend macht. Das Resultat bleibt casual, weil es offen akzeptiert, was der Zufall bringt und was die Umstände suggerieren, aber es ist doch gestaltet, weil die Karten, die einem zugefallen sind, auch gekonnt ausgespielt werden. In kluger, das Konventionelle mit dem Überraschenden kühn verknüpfender Manier formt Gehry seine Bauteile zu wendigen, aber nicht widerstandslosen Körpern. Anfänglich entblösste oder stauchte er sie, umwand sie provokativ mit vulgär wirkendem Material (Asphaltschindeln, Drahtnetze oder Sperrholz), jetzt aber bietet seine Palette bronzierte Bleiplatten, Stein, Terrakotta- und Putzverkleidung, Zinkblech, Glas und Schiefer auf, um die befreiten Volumen auch in ihren materiellen und körperlichen Kontrasten voll zur Geltung zu bringen. Er hat sich sozusagen aus dem dröhnenden Bereich des Heavy metal zu kammermusikalischem Geschmack gemausert.
Der Sprung aus der Geometrie
Unter Gehrys Händen befreien sich die Bauvolumen aus der kartesianischen Abstraktion, welcher ja auch die Begriffe von Eigentum und Ökonomie gehorchen, und verselbständigen sich zu tanzenden Figuren. Der Architekt setzt sie als Choreograph in Bewegung. Wer Gehrys Skizzieren verfolgt, der beobachtet diesen Sprung aus der Herrschaft der Geometrie in den ausschwingenden Bereich körperlicher Aktion, wenn er das scheinbar widerstandslose Gleiten seiner Feder verfolgt, die in immer neuen Schwüngen ausholt, um die flüchtigen Spuren bewegter Körper festzuschreiben. Gehrys Zeichnungen, die fast ausschliesslich aus Strichnetzen bestehen, erinnern an jene Studien, die Bewegungsabläufe fotografisch festhalten. Dazu wird an bestimmten Körperteilen eine Lichtquelle befestigt, die als fotografische Leuchtschrift jede körperliche Bewegung aufzeichnet, als schriebe sie sich selbst. Wie die körperlichen Bewegungen, die sie abbildet, projiziert die Lichtspur immer schon ihre räumliche Ausdehnung auf den zweidimensionalen Film. Lässt Gehry seinen Stift tanzen, so suggeriert er ebenfalls die Ausdehnung seiner Gegenstände, allerdings meist ohne Rekurs auf die Perspektive. Ich habe seinen Zeichenstil einmal folgendermassen beschrieben: «Gehrys Strich ist gleichmässig wie ein feiner Faden. Ohne Unterschied des Druckes und ohne augenfälligen Abbruch spinnt er seine Linien fort. Das ist nur möglich, wenn man die Hand kaum abstützt und in schleuniger Bewegung leicht über das Papier führt. Die nervöse Kontinuität dieser Zeichenstenographie umreisst ihre Gegenstände in immer neuen Variationen.»6 Wie eine Momentaufnahme nur einen einzigen Bruchteil der Bewegung festzubannen vermag und deshalb ihre Klarheit mit Starre bezahlt, so kann kontinuierliche Bewegung nicht gleichzeitig die Körper festhalten. Ebenso verfährt Gehry, wenn er seine Bauvolumen sozusagen in einer Momentaufnahme einfängt, in einem Zustand, dem Verwandlung vorausging und dem weitere Umgestaltung folgen wird. Schon damit wäre angedeutet, warum selbst das feststehende Gebäude nicht starr wirkt, sondern bewegt bleibt. Tatsächlich verwandeln sich seine Gebäude zu «offenen Bühnen». Wer sie umschreitet, dem kann das szenographische Element nicht entgehen, das den Anschein massstäblicher Verzerrung, ja dramatischer Übertreibung hervorruft. Doch ist es weniger das Schale der Bühne, schon gar nicht das Trügerische, das sich bemerkbar macht, sondern die Suggestion eines Ortes, an dem etwas geschieht. Ein Schauplatz im eigentlichen Sinne des Wortes, ein Ort, der nicht nur die Akteure in Szene setzt, sondern sich selbst als bedeutenden Platz offenbart. Für diese Art von Szenographie bringt Gehry die besten Voraussetzungen mit. In Zusammenarbeit mit Claes Oldenburg gestaltete er 1984 das venezianische Happening ll corso del coltello, brachte Tanzaufführungen und Kunstausstellungen auf ihre jeweiligen Bühnen, dies mit besonderer Bravour im Los Angeles County Museum. Dort stellte er z.B. 1983 expressionistische Holzskulpturen derart in Kästen aus, dass sie wirkten wie Schauspieler, die auf offener Bühne verharren. Der Eindruck einer solchen Einrichtung wäre am besten mit der Performance-Kunst Laurie Andersons oder mit den Bühnenbauten von Richard Wilson zu vergleichen. Wenn sich hier Gehrys Arbeit als enge Verbindung mit der Kunst seiner amerikanischen Zeitgenossen offenbart – und nicht etwa als Rückgriff auf europäische Bauvisionen –, so führen die grösseren Baukomplexe der achtziger Jahre direkt auf eine Inszenierung des öffentlichen Raumes hin.
Die Inszenierung öffentlichen Raumes
Gehrys Entwurf zum neuen Verwaltungsgebäude für die Möbelfirma Vitra in Birsfelden (Basel-Land) zum Beispiel basiert auf einer grundsätzlichen Trennung des eher anonymen Bürotraktes von den übrigen Räumlichkeiten, welche Personal, Empfang und Firmenrepräsentation dienen. Diese Strategie, die erst trennt, was es dann wieder zu verbinden gilt, erlaubt es Gehry, das eigentliche Bürohaus einem schon bestehenden Nachbarbau täuschend anzugleichen, während die Gemeinschaftsräume pyramidenförmig aufgetürmt und über Passerellen mit dem Arbeitstrakt verbunden werden. Das Zentrum der Anlage kommt somit ausserhalb der Arbeitsbezirke zu liegen und wirkt sich als architektonisches Wahrzeichen auf die ganze Umgebung aus. Trennung und formale Gestaltung der beiden Bereiche vertiefen den Unterschied ihrer Funktion zum spannungsvollen Kontrast und laden zu einfallsreichen Vermittlungen und Verstrebungen ein, die an Georg Simmels Überlegungen zum Thema «Brücke und Tor» aus dem Jahr 1909 erinnern, in denen er feststellt: «Als verbunden empfinden wir nur, was wir erst irgendwie gegeneinander isoliert haben, die Dinge müssen erst auseinander sein, um miteinander zu sein.»7 Die Pyramide der Empfangs- und Gemeinschaftsräume erweist sich als Konglomerat: im Grundriss von kreuzförmig angelegten Korridoren durchschnitten, im Aufriss zum Volumenhügel gestaffelt, ist nur dieser Teil der Anlage bis zur vollen Eigenständigkeit ausgebildet. Der Verwaltungstrakt verhehlt seinen technisch-anonymen Zweck ebensowenig wie die Empfangs-und Aufenthaltsräume ihre kollektive Identität und zeremonielle Funktion. Es ist kein Zufall, dass sich gerade Universitäts-und Klinikbauten zur Verwirklichung solcher Vorstellungen anboten. Von der Loyola-Rechtsfakultät (1981-84) in Los Angeles bis zur Kinderpsychiatrischen Klinik der Yale Universität (1984–89) spannt Gehry den Bogen seiner Idee, institutionelle Zwecke öffentlich darzustellen, und er tut dies nicht etwa mit den abgedroschenen Mitteln der Bauikonographie, die längst zum postmodernen Grimassenschneiden verkommen sind, sondern in der Choreographie der Volumen, den Stellungen und Überschneidungen ihrer Glieder. Selbst der verbrauchte Begriff der Promenade architecturale gewinnt in diesem Zusammenhang eine neue Bedeutung. Schritt für Schritt erschliesst die Promenade den Schauplatz und gewährt Einblick in die Gruppenphysiognomie der Gebäude. Erst entlang ihres Weges entfalten sich Volumen und Raum als Bühne des öffentlichen Zusammenspiels. Das könnte zum Kitsch der blossen Kulisse führen, stünden dem nicht sowohl der Grad von Abstraktion als auch die körperliche Analogie und Bewegungsfreiheit der Teile entgegen. Gehry schlägt sich nicht auf die Seite derjenigen, die nostalgisch die starre Erscheinung, ja das Zwangsbild einer sozialen Ordnung wenigstens als Reproduktion nochmals dingfest machen wollen. Nein, er bricht eben dieses starre Gefüge auseinander und verspricht schon mit seiner Handhabung und Verformung der Versatzstücke, dass der Schauplatz auch zum Handlungsort werden kann. Die Loyola-Rechtsfakultät und das Kinderpsychiatrische Institut der Yale Universität haben den Charakter von «Übungsplätzen», von Orten, wo man lernen kann, sein Verhalten in einem öffentlichen Bereich als ein doch persönliches zu modulieren. Diese Bühne soll also nicht einfach die Wirklichkeit des gesellschaftlichen Lebens – in seinen geschäftlichen und professionellen Ausprägungen – krass dem einzelnen entgegenstellen, sondern sich vielmehr als Musterbogen anbieten, in dem nicht nur die vorgestanzten Teile, sondern auch die Zwischenräume verfügbar werden. Gehrys Verständnis dieser Lebenssphären gewinnt unmittelbar Gestalt in seinen «Baubühnen», auf denen jedes Objekt seinen Charakter aus dem Widerspiel mit anderen gewinnt. Massstab und Material spielen dabei auch eine atmosphärische Rolle, das heisst, sie untermalen und überhöhen ihre blosse Gegenwart in Analogie zur Tonlage und Stärke der Orchesterinstrumente. Gerade in ihren spielerischen Aspekten, in ihrer poetischen Abstraktion, beinhaltet Gehrys Architektur zwei geschichtliche Dimensionen. Zum einen ist sie eine Biographie der Projekte, deren Resultat noch in allen Teilen den Prozess ihrer Entstehung enthält, sowie eine Autobiographie ihres Autors und seiner Mitarbeiter, die ihre Agilität in der Gestaltung aus dem eigenen Leben und nicht aus Büchern gezogen haben. Zum andern bildet sich in Gehrys Bauten eine amerikanische Mentalität nicht nur ab, sondern verschafft sich sozusagen eine weitere Bühne, auf der sie eine Chance für ihre eigene Zukunft, eine Frist zur Fortsetzung ihrer besten Experimente hat, und damit auch neue Resonanz in der Welt hervorzurufen vermag.
Kurt W Forster; in der Schweiz geboren und aufgewachsen, studierte in Deutschland, England und Italien und promovierte 1961 an der Universität Zürich in Kunst-und Architekturgeschichte. Er lehrte an den Universitäten von Yale, Berkeley, Stanford und am MIT und hielt Vorträge in Europa und in den Vereinigten Staaten. Ehemaliger Direktor des Istituto di Svizzera in Rom und des Stanford Study Center in Berlin. Redaktor der Zeitschrift «Oppositions» von 1978 bis 1983. Beratungsmitglied der Biennale von Venedig und des Palladio-lnstitutes in Vicenza. Seit 1984 Direktor des Getty Center for the History of Art and the Humanities in Santa Monica, Kalifornien.
Anmerkungen:
1 «Alte amerikanische Holz-und Schmiedearbeiten; Architektur aus der Bürgerkriegszeit und Wolkenkratzerarchitektur; die leuchtenden Farben von Tankstellen, Warenhausfassaden und Taxis; die Musik Bachs; synthetische Chemie; die Poesie Rimbauds; schnelle Reisen mit Bahn,Auto und Flugzeug, die verschiedene neue Perspektiven eröffnen; Leuchtreklamen; die Landschaft und die Boote von Gloucester, Massachusetts; Küchengeräte aus dem Billigwarenangebot; Kino und Radio; das Jazzklavier von Earl Hines; ... » Aus: Hersehe! B. Chipp (Hrsg.), Theories of Modern Art; A Source Book by Artists and Critics, Berkeley and Los Angeles, 1986, S. 524.
2 «Auf dem Boden zu malen ist mir angenehmer. Ich bin näher bei der Sache, mehr ein Teil des Bildes, denn ich kann um die Leinwand herumgehen, von allen vier Seiten her arbeiten und tatsächlich im Bild selbst sein.» lbid, S. 546.
3 «Wenn ich in meinem Bild bin, dann ist mir nicht bewusst, was ich tue.» Ibid, S. 548.
4 «Wenn ich arbeite, kennen meine Gedanken keine Worte.» Aus: David Smith, 1906-1965, A Retrospective Exhibition, Harvard University, 1966, S.102.
5 «Ich kann mir mein Werk nicht im voraus vorstellen und dann das Material dazu einkaufen. Ich kann aber ein Teilstück dazu finden oder entdecken.» lbid.
6 Kurt W. Forster, «Goldberg-Variationen -Bemerkungen zu Frank Gehrys Zeichnungen», aus: Frank O. Gehry, Design Museum Vitra, Weil am Rhein (Ausstellungskatalog), Berlin, 1989.
7 Georg Simmel, Das Individuum und die Freiheit, Berlin, 1984, S. 7-11.