Biennale Architettura 2025
Am 10. Mai wurde die 19. Architekturbiennale in Venedig offiziell eröffnet. Die Ausstellung unter dem Titel Intelligens. Natural. Artificial. Collective wurde vom Turiner Architekten Carlo Ratti kuratiert, der – reagierend auf die immer stärker auftretenden Auswirkungen des Klimawandels – zur Suche nach neuen Ideen in einer sich verändernden Welt auffordert. Dabei reiche es nicht, die Auswirkungen der Baubranche auf das Klima zu reduzieren, vielmehr sei ein grundlegender Wandel in der Architektur notwendig, wie auf der offiziellen Webseite geschrieben wird. Der Ausstellungstitel, der als Neologismus das lateinische Wort «gens» (Sippe, Gruppe) beinhaltet, ruft zum gemeinsamen Arbeiten, Suchen und Experimentieren mit verschiedensten Formen der Intelligenz auf.
Zürich, 21. Mai 2025
Charlotte Neyenhuys: Vier Tage lang sind wir zwischen den Giardini, dem Arsenale und den vielen weiteren Schauplätzen der diesjährigen Architekturbiennale hin und her gewandert. Den Anfang haben wir in den Giardini gemacht, also lasst uns doch auch direkt dort mit dem Gespräch einsteigen. Augenfällig viele der Länderbeiträge nehmen dieses Jahr mehr oder weniger direkten Bezug auf das Ausstellungsthema von Carlo Ratti, trotz allem ist die inhaltliche und szenografische Vielfalt gewohnt riesig – inhaltlich vorherrschend der Klimawandel, die Notwendigkeit einer Bauwende, aber auch Technologie, künstliche Intelligenz und soziale Aspekte des Bauens, Wohnens und Zusammenlebens.
Mich haben letztlich die Beiträge am meisten berührt, die neben inhaltlichen Schwerpunkten auch durch ein räumlich-atmosphärisches Erlebnis beeindrucken. Dabei denke ich unter anderem an die Beiträge von Serbien, Dänemark, der Schweiz – oder vom Vatikan, der sich nicht direkt in den Giardini, sondern in den Räumen der Chiesa di Santa Maria Ausiliatrice unweit der Via Giuseppe Garibaldi befindet. Dort werden in den kommenden sechs Monaten die Räume renoviert – Opera aperta lautet der Titel dieses Happenings, das von einem internationalen Team um ESTUDIO von Tatiana Bilbao, MAIO Architects und den Kuratorinnen Marina Otero Verzier und Giovanna Zabotti ins Leben gerufen wurde. Die Beteiligten schaffen einen Raum des kollektiven Engagements, in dem Besucher*innen und Anwohner*innen zusammengebracht werden sollen. Sei dies beim gemeinsamen Mittagessen, das von der venezianischen Kooperative nonsoloverde ausgerichtet wird, oder im Rahmen der Nutzung als Proberaum für venezianische Musikstudierende. Besucher*innen erwartet ein Ort des vielfältigen Geschehens und Werkens. Nele, welche Beiträge waren deine Favoriten?
Nele Rickmann: In Bezug auf die Länderpavillons in den Giardini habe ich vier, die mir im Kopf geblieben sind: Das sind dieses Jahr die Beiträge von Spanien, Dänemark, Serbien und der Schweiz. Unsere Favoriten scheinen sich also nicht allzu sehr zu unterscheiden! Spanien ist darunter der vielleicht «klassischste», in dem Sinne einer Architekturausstellung, in der landeseigene Projekte vorgestellt werden. Jedoch empfand ich die ausgewählten Beiträge zum Thema des Bauens mit regenerativen Materialien nicht nur wichtig und inhaltlich bedeutend, sondern auch besonders zugänglich und ästhetisch präsentiert – alles war stimmig und ich habe den spanischen Pavillon mit vielen Impressionen verlassen. Der dänische Beitrag, kuratiert von Søren Pihlmann, macht dieses Jahr die noch laufende und zum Zwecke der Biennale pausierte Renovation des eigenen Pavillons zum Thema. Der Beitrag besticht vor allem durch seine Simplizität und macht die Renovationsarbeiten selbst zum Ausstellungsthema – die Architektur von Carl Brummer von 1932 steht dort im Fokus. Gleichermassen wird sie verbunden mit zeitgenössischen Themen wie der Wiederverwendung von Baumaterialien oder dem Klimawandel – denn vor allem wird renoviert, weil Fluten Schäden hinterlassen haben! Am künstlerischsten im Sinne einer kunstvollen Rauminstallation war der Beitrag von Serbien. Ich finde den Witz, dass die aus Fäden bestehende Decke sich in den nächsten Monaten und bis Ende der Biennale wieder auf ihre dutzenden Knäule aufrollen und so in ihren Ursprungszustand zurückgesetzt wird, einfach brillant! Natürlich geht es dabei auch um tiefere Themen wie Vergänglichkeit und Temporalitäten von Räumen und Architektur. Und letztlich der Beitrag der Schweiz, der auf das Fehlen von weiblichen Architektinnen bei der Erstellung der Ausstellungsräume der Biennale aufmerksam macht, in dem Elemente der temporären SAFFA-Kunsthalle von Lisbeth Sachs (1958) mit der permanenten Pavillonarchitektur von Bruno Giacometti (1952) überlagert werden. Im dynamischen Durchwandeln der Installation wird dieser Beitrag besonders eindrücklich. Jedoch konnten die Kuratorinnen von Annexe mir in der Pressekonferenz auf meine Frage, vor welchen Herausforderungen sie in der Materialübersetzung standen – von Beton, wie ursprünglich von Sachs umgesetzt, zu Holz – nur eine etwas schwammige Antwort geben. Schade, denn das interessiert mich wirklich, wie eine gewisse Detailtiefe neu übersetzt werden musste. Dennoch, ein sehr gelungener Beitrag zu dieser gegenwärtig immer noch sehr wichtigen Problematik – und das nach nunmehr 75 Jahren!
Vor zwei Jahren war der österreichische Beitrag kuratiert vom Kollektiv AKT und Hermann Czech mein absoluter Favorit. Dieses Jahr war dieser etwas verhaltener, das Thema des sozialen Wohnungsbaus ist mit Blick auf Wien zwar wichtig, aber auch nicht wirklich etwas Neues. Ähnlich beim deutschen Pavillon, der viele etwas enttäuscht zurückgelassen hat. Hubertus, du hast eine gepfefferte Kritik dahingehend in der NZZ geschrieben1 – was war denn dein Eindruck? Und wie stehst du zur Entscheidung des Goldenen Löwen, der dieses Jahr an Bahrain ging?
Hubertus Adam: Ich spreche erst einmal vom deutschen Beitrag, der mich wirklich geärgert hat. Auf der einen Seite des Pavillons spürt man körperlich Hitze, weil ein Hitzeblock eingebaut ist. Auf der anderen Seite stehen ein paar Hainbuchen und alles ist ein paar Grad kühler. Das wir Entsiegeln müssen, weg müssen vom Asphalt, also dem Teermeer, das es ja auch in Zürich gibt: völlig einverstanden. Nur werden Bäume allein die gegenwärtige Situation nicht retten können, da muss man etwas mehr tun. Was mich einfach nur nervt – und das je mehr, je länger ich in Zürich lebe – ist der erhobene Zeigefinger von Deutschland, diese Selbstzufriedenheit, es viel besser zu machen als alle anderen. Wir haben alle einen deutschen Hintergrund, wie steht ihr dazu?
Angesichts der globalen Situation, mit der wir konfrontiert sind, befinden wir uns alle in einem Dilemma. So wie bislang, geht es nicht weiter. Aber wir wissen auch nicht weiter wie. Grundsätzlich gefallen mir Beiträge, bei denen auch diese Unsicherheit in irgendeiner Weise durchscheint. Ich mag daher einige der osteuropäischen Beiträge, die vielleicht etwas irrlichtern und nicht so selbstgewiss auftreten wie Deutschland. Der polnische Pavillon hat mir wirklich Spass gemacht. Es ging um alles, was Häuser schützen kann. Das sind natürlich Wände, Dächer, Türen – aber auch Feuerlöscher (in einem Altar inszeniert) und Überwachungskameras. Und dann all der irrationale Unsinn, den manche ihrem Domizil angedeihen lassen: Begehung mit Wünschelrutengängern oder Eierschalen, die im Boden eingegraben werden.
Bei Serbien sind wir einer Meinung: ebenso poetisch wie intelligent. Angesichts einer Ökonomie der Aufmerksamkeit, die sich in den Nationenpavillons auf wenige Minuten beschränkt, ist es grossartig, wenn man als Besucher*in nicht mit einem an die Wände gehängten «Buch» konfrontiert wird, sondern mit einer räumlichen Inszenierung, die man im besten Fall nicht so schnell vergisst. Estland hat mir auch Spass gemacht: Die Kurator*innen haben ein Haus zwischen den Giardini und dem Arsenale mit Wärmedämmverkleidung versehen und innen thematisiert, wie alle Beteiligten mit der Renovierung umgehen – so wie bei Plattenbauten in ihrer Heimat: eine Art von Theaterstück auf wenigen Quadratmetern.
Kommen wir zu Bahrain. Ich weiss nicht wirklich, wie eine Jury, diesmal unter dem Vorsitz von Hans Ulrich Obrist, es schafft, innerhalb kürzester Zeit alle Beiträge der Hauptausstellung und alle Länderpräsentationen anzusehen. Aber ich bin völlig d’accord: Mir hat der Pavillon von Bahrain ziemlich gut gefallen. Ich gebe gerne zu: Mich interessiert Bahrain, und nicht ohne Grund haben wir ja auch ein Heft der archithese über Bahrain publiziert.2 Die Präsentationen von Bahrain sind seit der Beteiligung an der Biennale grossartig. Weil die federführende Kulturbehörde BACA intelligente Themen auswählt. Und diese auch gut präsentiert. So gab es schon den Goldenen Löwen für die erste Teilnahme, und nun erneut. Diesmal wird – auf Basis eines von der BACA ausgeschriebenen Wettbewerbs – der Prototyp eines kühlenden Dachs ausgestellt, das in Bahrain unter anderem für die Kühlung von Baustellen eingesetzt werden kann. Das architektonische Projekt stammt von Andrea Faraguna, der die Idee gemeinsam mit dem Tessiner Ingenieur Mario Manotti und dem an der ETH lehrenden Geotechniker Alexander Puzrin entwickelt hat. Man kann sich auf Sandsäcken hinlegen, um die Effekte der Kühlung zu spüren. Mich hat daher auch ein in DIE ZEIT publizierter Artikel geärgert, in dem Bahrain kritisiert wird, weil dort auch Hochhäuser und Luxusresorts entstehen.3 Das stimmt, aber die Akteur*innen des Pavillons haben damit nichts zu tun. Die Initiator*innen des deutschen Pavillons möchten bestimmt auch nicht mit allem in Verbindung gebracht werden, was in Deutschland baulich geschieht.
Wenn mir noch Pavillons in Erinnerung geblieben sind, so waren das Macao, Hongkong und Saudi-Arabien. Und nun wird demnächst auch der Pavillon von Katar auf dem Gelände der Giardini gebaut. Das hat, insbesondere in deutschen Medien, Kritik hervorgerufen. Denn Katar sei, wie Saudi-Arabien, ein «Schurkenstaat». In diesem Jahr hat Katar einen kleinen temporären Pavillon aus Bambus der pakistanischen Architektin Yasmeen Lari aufgestellt, der letztes Jahr in Doha zu sehen war. Vorgestellt wird nun auch der dauerhafte Pavillon, der im nächsten Jahr gebaut werden soll. Architektin ist die derzeit sehr angesagte Lina Ghotmeh. Es wird der 30. Länderpavillon auf dem Gelände der Biennale sein. Und der erste, den eine Architektin entworfen hat. Was denkt ihr darüber?
CN: Ich finde es sehr wichtig, dass bald – endlich! – ein Pavillon einer weiblichen Protagonistin in den Giardini vertreten sein wird. Die Tatsache, dass keiner der bestehenden Länderpavillons von einer Architektin geplant oder erbaut wurde, hat, wie Nele bereits erwähnte, im diesjährigen Schweizer Beitrag eine wichtige Rolle gespielt. Die räumliche Überlagerung der Pavillons von Giacometti und Sachs stellt nicht nur einen strukturellen, sondern auch symbolischen Dialog dar, der einen Blick in die Zukunft wirft. Fragen der Gleichberechtigung, Sichtbarkeit und damit auch der Rolle weiblicher Protagonistinnen an der Biennale und generell in der Architektur- und Baubranche werden aufgeworfen. Denn wie in vielen anderen Bereichen, sind Architektinnen nach wie vor auch hier insbesondere in Führungspositionen unterrepräsentiert.
Dass nun ausgerechnet Katar als Land, das nach wie vor von männlicher Vormundschaft geprägt ist, als erstes mit einem von einer Architektin entworfenen dauerhaften Länderpavillon an der Biennale vertreten sein wird, überrascht. Ob es sich bei der Wahl der libanesischen Architektin Lina Ghotmeh, die im Westen sehr bekannt ist, um eine kalkulierte Entscheidung handelt, damit ein angestrebtes Image als offenes Land nach «westlichen Werten» erzielt wird, ist ungewiss. Dennoch ist es ein erster Schritt in die richtige Richtung.
Du hast von einer Unsicherheit gesprochen, die in gewissen Beiträgen auch zum Ausdruck kommt, Hubertus. In deinem Artikel für die NZZ hast du ebenfalls angemerkt, dass die an den verschiedenen Ausstellungsorten in Venedig ausgestellten Beiträge zwar eine Menge an Vorschlägen darlegen, aber keine wirklichen Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit geben. Hat dies mit den vielen an der Ausstellung beteiligten Protagonist*innen aus unterschiedlichen Fachgebieten – wie unter anderem Architektur, Ingenieurswesen, Philosophie, Literatur oder Design – zu tun? Ist das ein generelles Problem einer solchen Ausstellung wie der Biennale?
An der diesjährigen Architekturbiennale waren so viele Protagonist*innen beteiligt wie noch nie. In den Hallen der Arsenale ist demnach ein reines Sammelsurium verschiedener Beiträge ausgestellt, eine Menge, die im ersten Moment etwas überfordernd daherkam, bei genauem Betrachten aber Vieles und vor allem viel Unterschiedliches zu entdecken ermöglichte. Einen kleinen Moment der Ruhe habe ich in der Fondazione Prada gefunden. Die parallel zur Biennale laufende Ausstellung Diagrams: A Project by AMO/OMA zeigt historische und zeitgenössische Diagramme und Karten und beleuchtet deren Bedeutung als Werkzeug der Kommunikation. Im abgedunkelten Obergeschoss des Palazzos herrschte bei meinem Besuch totale Ruhe und die vielen Besucher*innen waren in das genaue Betrachten der Ausstellungsstücke vertieft. Ein totaler Kontrast zum Trubel in den Hallen der Arsenale. Wie ist es dir auf der Biennale damit ergangen, Nele?
NR: Viele Fragen… und ich fange mal oben an. Hubertus, für mich ist es kein erhobener Zeigefinger – als belehrend habe ich den deutschen Beitrag nicht wahrgenommen. Für mich ist es eher ein gewisser Mangel an Flexibilität, eine gewisse Kreativlosigkeit, die dazu führt, dass man sich auf Fakten und Zahlen stützt. Es fehlt an Witz, an Freude – der Beitrag ist trocken und zeigt weder etwas Neues, noch etwas wirklich Innovatives. Nun sagen vielleicht einige, das Thema wäre so ernst, das müsse man nicht kreativ verpacken. Nun ja, ich sehe das anders, denn es geht doch darum, dass wir angesichts all der Krisen und Problemen nicht müde werden, oder?
Zu Bahrain: Ich finde unsere archithese-Ausgabe natürlich auch super, aber der Biennale-Beitrag dieses Jahr hat mich nicht wirklich überzeugt, von daher bin ich von der Jury-Entscheidung etwas irritiert. Folgende drei Kritikpunkte habe ich: Erstens ist die Konstruktion auf Grund ihrer Komplexität, was die Installation samt Erdbohrung betrifft, aufwendig und hat für mich nichts mit temporärer Architektur zu tun. Zweitens, wenn sie denn nicht temporär sein soll, empfinde ich sie als zu aufdringlich und ich kann mir nicht vorstellen, dass eine solche massiv wirkende Struktur öffentlichen Plätzen guttut. Und drittens hat trotz CO2-Effizienz die Kühldecke aus Metall für mich wenig mit einer längerfristig gedachten Nachhaltigkeit zu tun… das Material muss aufwendig importiert werden. Den Beitrag empfinde ich tatsächlich als top down; es sind «Externe», die sich Gedanken machen. Schade eigentlich – ich glaube, Bahrain hat mit seiner weitreichenden Tradition mehr zu bieten!
Und nun zur Ausstellung im Arsenale. Ich bin froh, dass ich drei Tage auf den Biennale-Gelände unterwegs war, so hatte ich genug Zeit, mir alles anzuschauen. Beim ersten Begehen der Ausstellung Intelligens. Natural. Artificial. Collective war die Fülle natürlich überfordernd! Der Einstieg mit dem künstlichen Wasserspiegel und den Klimaanlagen hat mich jedoch überzeugt, den fand ich super; danach wurde es voll und voller. Aber abgesehen davon, fand ich die Beiträge gut und spannend. Ich frage mich eher, wie viel green washing betrieben wird, ehrlich gesagt – bei dem ein oder anderen Beitrag war ich mir nicht so ganz sicher, ob das so wirklich funktionieren kann. Dennoch vertrete ich die Meinung: Es müssen für mich nicht zwingend Lösungen gezeigt werden. Wenn wir Lösungen hätten, dann gäbe es die gegenwärtigen Probleme wahrscheinlich nicht – zumindest nicht in dem Ausmass. Für mich ist das Experimentieren relevant, das vielleicht, vielleicht aber auch nicht, uns in Zukunft weiterbringen wird. Einige Projekte sind sehr regionalbezogen, aber auch das ist okay, wir können sie demnach nicht direkt übernehmen, aber können wir nicht trotzdem etwas davon lernen? Mich hat der Ideenreichtum fasziniert – vielleicht auch gerade wegen der inhaltlichen Fülle – und nach der ersten Überforderung, wo zuerst gucken, habe ich letztlich doch mit einem positiven Gefühl den Arsenale verlassen.
Und jetzt schlage ich einen grossen Bogen von OMA zum Biennale-Beitrag von Saudi-Arabien. Mir ist ein Satz in der Ausstellung im Gedächtnis geblieben, der mich beschäftigt, und zwar, dass wir (im Westen) die Wüste immer als no man’s land, als einen Ort der Tabula rasa verstehen. Das zeigt sich bis heute, ich denke an die lineare Stadt The Line, welche die saudi-arabische Regierung 2017 ins Leben gerufen hat und an der eben auch OMA und andere grosse Büros mitarbeiten. Dabei ist die Wüste ein lebendiger Ort, in dem unglaublich viel passiert und viel Leben existiert – das scheinen wir manchmal zu vergessen.
Abschliessend würde mich nun interessieren, was ihr euch für die nächste Architekturbiennale 2027 wünscht?
CN: Ich wünsche mir Begeisterung, wenn man das so sagen kann. Damit meine ich mehr Atmosphäre und räumliche Erfahrungen, mehr Überraschungen, mehr überschwappende Freude an der Profession der Architektur – und insbesondere Optimismus. Die Herausforderungen, vor denen die Architektur- und Baubranche steht, und die aktuelle weltpolitische Lage lösen eine gewisse Lähmung aus, zumindest spüre ich das in meiner Generation sehr. Das drückt sich, so empfinde ich es, auch an der diesjährigen Biennale aus. Ich denke, eine Ausstellung wie die Biennale in Venedig ist auch eine Möglichkeit, frei zu sein und etwas zu träumen.
Beiträge wie diejenigen von Dänemark oder auch Spanien haben in unterschiedlicher Weise trotz einer gewissen Nüchternheit auf mich eine grosse Wirkung erzielt. Dies mag am klaren Fokus, einem beinahe forschenden Betrachten liegen. Seien es das genaue Analysieren der vielen Schichten und Details des dänischen Pavillons oder die Atmosphäre, die auf den Bildern von arbeitenden Händen im spanischen Pavillon rübergebracht wird. Die analoge Erfahrung mit Material, Stofflichkeit, Farbe, Licht und Raum ist es, welche die Biennale für mich so besonders und sehenswert macht. Und ich denke, dass es auch diese Momente sind, die einem Nicht-Architekt*innen-Publikum den Einstieg in den Architekturdiskurs erleichtern.
HA: Da pflichte ich Dir bei, Charlotte. Für mich haben diese Gedanken auch etwas damit zu tun, was gute Ausstellungen ausmacht: Sie sollten Erfahrungen ermöglichen, die nur im Medium der Ausstellung möglich sind. Das bedeutet, dass die Exponate im Zentrum stehen. Das ist meine Kritik an den vielen, im Arsenale seitlich in Form von Wandtafeln präsentierten Projekten, die für mich besser in einem Buch aufgehoben wären: Die Texte sind sehr lang (und die KI-generierte Kurzform ist oft kaum noch aussagekräftig, meist zu niedrig gehängt und dadurch schlecht lesbar); Abbildungen treten gegenüber dem Text oft in den Hintergrund. Gerade in akademischen Milieus scheint mir das Bewusstsein unterentwickelt, wie man Forschungsergebnisse ansprechend präsentiert. Die Wände mit Seiten eines Buchs vollzupflastern, kann nicht die Lösung sein. Ein Buch ist ein Buch und eine Ausstellung ist eine Ausstellung. Wenn ich mir also etwas für die kommende Architekturbiennale wünsche, so bessere, intelligentere, sinnlichere und auch subtilere und ironischere Szenografien.
Ich beneide aber auch die Kurator*innen der Hauptausstellung nicht. Carlo Ratti wurde im Dezember 2023 ernannt. Da blieben knapp 18 Monate zur Eröffnung. Eigentlich ein kuratorisches Himmelfahrtskommando. Und Rattis Idee des open call ist eine Möglichkeit, auf die Herausforderung zu reagieren. Das hat zu dieser Unmenge an Beiträgen geführt. Ich bin in diesem Jahr zunächst einmal schnellen Schritts durch den Arsenale gelaufen, war erschlagen und habe an diesem und am Folgetag erst einmal einen Bogen um die Hauptausstellung gemacht. Am Wochenende, als es auch etwas leerer war, habe ich mich dann eher treiben lassen. Und dann neben manchem, was ich wirklich ärgerlich oder aufgebläht fand, auch vieles Spannendes entdeckt – und manches, wie ich auf der Rückfahrt bei der Lektüre des Katalogs feststellen musste, schlicht übersehen.
Als ehemaliger Leiter des S AM Schweizerisches Architekturmuseum habe ich bisweilen auch bewusst in Ausstellungen mit dem Prinzip der Überforderung gearbeitet: mehr Exponate oder Archivalien zur Verfügung stellen als bei einem Besuch rezipierbar sind. Wie in einem Schaudepot oder einer Wunderkammer, so dass die Besuchenden gewissermassen zu den Kurator*innen ihrer eigenen Ausstellung werden. Ich glaube aber, dass dieses Prozedere zum Scheitern verurteilt ist, wenn wie bei der Biennale die Gesamtfläche der Ausstellungen ohnehin schon jedes menschlich wahrnehmbare Mass übersteigt. Vielleicht leide ich aber auch unter einer déformation professionelle, einen Gesamtüberblick gewinnen zu müssen, anstatt die Biennale gewissermassen als Speisekarte zu verstehen, bei dem man sich nach Lust und Laune ein individuelles Menü zusammenstellt.
Ihr merkt, ich argumentiere nicht ganz so pointiert wie in der NZZ, was natürlich auch mit unserer informellen Gesprächsatmosphäre zu tun hat. Ein expliziteres Kuratieren wünschte ich mir für die nächste Architekturbiennale aber schon. Man könnte es auch einmal mit weniger Ausstellungsfläche versuchen. Die Idee der permanenten Progression ist für mich ohnehin fragwürdig; Die Grenzen des Wachstums heisst die legendäre Schrift des Club of Rome, die vor mehr als 50 Jahren erschienen ist und aus der wir wenig gelernt haben. Nun interessiert mich aber noch, wie Du, Nele, auf die von dir aufgeworfene Frage nach den Wünschen für die kommende Architekturbiennale antwortest.
NR: Mit weniger Ausstellungsfläche hat man es dieses Jahr versucht: Da der Hauptpavillon in den Giardini renoviert wird, der sonst in den anderen Jahren noch als Erweiterung der Arsenale-Ausstellung diente, konzentriert sich dieses Mal alles auf die Hallen des ehemaligen Werftgeländes. Räumlich wurde verkleinert, nur hat Ratti inhaltlich nicht reduziert.
Ich kann das eigentlich immer ganz gut, mir ein «individuelles Menü» zusammenstellen, wie du sagst, Hubertus. Ich bin aber auch jemand, ich habe keine Angst, Dinge zu verpassen – ausser natürlich die Länderpartys, da bin ich immer hinterher! [lacht] Was ich meine, ist, dass ich immer mit einem Fokus in die Biennale gehe, was sicherlich dazu führt, dass ich das ein oder andere verpasse, beispielsweise Macao und Hongkong, die dir ja dieses Jahr gut gefallen haben, Hubertus.
Ich sehe es an sich so wie ihr: Die Exponate müssen mehr in den Fokus gerückt werden. Nur ist das generell ein Problem, wenn Architektur ausgestellt wird. Es wird viel über Fotografien, Text und Pläne vermittelt, da die Architektur an sich nicht ausgestellt werden kann. Eventuell gibt es mal ein Modell oder ein Mock-up, aber alles andere lässt sich eben auch in Bücher packen. Das ist ein Grundproblem des Architekturausstellens.
Und ein weiteres generelles Problem ist, dass sich Architekt*innen viel zu wichtig nehmen. Das wäre etwas, was ich mir wünschen würde, dass sich das ändert. Dieses «kräftemessende Schaulaufen», wie Susanna Koeberle es in ihrer Kritik4 nennt, irritiert auch mich immer wieder. Ich habe das Glück, dass ich viele Freund*innen auch ausserhalb der Architektur habe, und wenn man sich mal aus der «Blase» raus bewegt, merkt man, dass das eigene Verständnis nicht der grossen Realität entspricht. Das ist wichtig und am Ende weiss man: Architektur allein ist gar nicht in der Lage, Lösungen zu bieten.
1 Hubertus Adam, «Architektonische Geisterbahn in die Zukunft», in: NZZ, 13.5.2025.
2 archithese 4.2022 Bahrain, erhältlich im Shop auf archithese.ch
3 Maximilian Probst, «Hört auf zu bauen», in: DIE ZEIT, 15.5.2025.
4 Susanna Koeberle, «Das große Schaulaufen», auf: german-architects.com