Bezüge offenlegen, drängende Fragen formulieren
In fast keinem Land ist der rege Diskurs zwischen den Architekten stärker spürbar und fruchtbarer, als in der Schweiz. Geht es darum, gemeinsame Fragen und Positionen herauszuschälen, weichen aber die meisten Akteure zurück und versuchen, ihre Arbeiten als individuelle Inselpositionen darzustellen. Der Diskurs wird aus egozentrischen Künstlerattitüden heraus vielfach unnötig ausgebremst. Das S AM hat mit der Ausstellung Schweizweit einen Trick gefunden, die marketingstrategischen Blockaden vieler Büros zu durchbrechen und einen ersten Schritt in einen grösseren und beziehungsreicheren Diskurs zu starten. Dieser Text ist eine Rückschau und zugleich ein Aufruf, den Impuls aufzunehmen und eine neue Diskussionskultur zu wagen.
Text: Jørg Himmelreich – 17.5.2017
Fotos: Elena Fuchs
Vorschnell wurde die Schau Schweizweit des Schweizerischen Architekturmuseum in Basel als Auslegeordnung und Bilderparade kritisiert, weil eine theoretische Setzung und das Formulieren von Metathemen fehlen. Dabei leistete sie spannende Inputs in einem Bereich, der sich im Schweizer Diskurs als schwierig herauskristallisiert hat: In keinem anderen Land lässt sich am Gebauten so offensichtlich ablesen, dass die Architekturschaffenden an gemeinsamen Themen arbeiten, verbindende Fragestellung verfolgen und sich von einander inspirieren lassen. Doch angesprochen auf Vorbilder und grössere Diskurse, in denen man sich verordnet, möchten die meisten stattdessen lieber als einzigartig und individuell dargestellt und wahrgenommen werden. Für Architekturjournalisten eine permanente Qual, für Diskursinteressierte Ursache wiederkehrender Enttäuschungen: Regelmässig werden die Redaktionen unter Druck gesetzt, aus Architekturkritiken oder Interviews Bezugsetzungen und Vergleiche herauszustreichen.
Das S AM hat im vergangenen Halbjahr mit einem cleveren Aufbau einen Weg gefunden, Manipulieren und Schweigen zu durchbrechen. Schweizweit hat es mit einem Trick geschafft, Bezüge heraus zu schälen und – wenn auch leise und lediglich mit dem Medium des Bildes – ein Beziehungsgeflecht offenzulegen, das – oh Wunder – von den Architektinnen und nicht von den Kuratoren formuliert wurde. 162 Teilnehmer sendeten drei Fotos: Von einer eigenen Arbeit, von einem als inspirierend empfundenes Bauwerk eines Kollegen und von einem vernakulären Bauwerk.
Eine qualitative Studie
Das S AM-Team organisierte parallel zur Schau vier Veranstaltungen, um einige der teilnehmenden Architekten der Ausstellung nicht nur zu Referenzierungen zu bewegen, sondern auch «zu Wort» kommen zu lassen. Diese Blind Dates sollten gemeinsame Intentionen, verwandte Herangehensweisen und drängende Fragestellungen bergen. Bei den abendlichen Diskussionsrunden erfuhren die Teilnehmer erst vor Ort, mit wem sie debattieren würden.
Zur vierten und finalen Podiumsdiskussion, die am 5. Mai 2017 in Basel stattfand, traten dreizehn Architekturschaffende aus acht Büros an, um unter Moderation von Irina Davidovici, Viviane Ehrensberger, Nicola Navone und Stéphanie Savio miteinander zu diskutieren.
Jede der Veranstaltungen begann damit, dass die Teilnehmer die drei Bilder zeigten, welche sie für die Ausstellung und den begleitenden Katalog eingereicht hatten. Danach wurden zwei Themen benannt oder Fragen gestellt, die als Inputs für die folgende Gruppendiskussion dienen sollten. Mit diesem offenen Setup wollten Andreas Ruby und sein Team die Gefahr umschiffen, Schweizer Architekturschaffende in selbstgezimmerte Schubladen einzusortieren. Stattdessen sollte die grosse Bandbreite unterschiedlicher Herangehensweisen sichtbar gemacht und gemeinsame Intentionen zu Tage gefördert werden. Die Besucher waren aufgefordert, aus der umfangreichen Bildwelt selbst Unterschiede und Gemeinsamkeiten heraus zu destillieren. Doch in der scheinbar simplen Aufgabe – zwei Referenzen in Bildform zu formulieren – liegt bereits die Stärke. Denn in der Regel lassen sich Architekten ungern in die Karten schauen, wenn es um ihre Inspirationsquellen geht. Zwar wird privat, im Café oder bei einem Glas Wein mitunter über Vorbilder gesprochen, doch öffentlich Farbe bekennen mag kaum jemand (abgesehen vielleicht von Bezugnahmen auf vergangenen Epochen und bereits verstorbenen oder steinalten Architektinnen). Schweizweit hat es geschafft (zumindest formale) Verbindungslinien offen zu legen.
Seltene Einblicke
Katharina Bayer, David Klemmer, Stefan Kurath, Oliver Lütjens, Thomas Padmanabhan, Roland Rossmaier, Malte Kloes, Christoph Reichen, Manuel Herz, Martino Pedrozzi, Guillaume Yersin, Michael Meier und Thomas de Geeter stellten sich beim letzten Blind Date der Diskussion untereinander und mit dem Publikum. Doch bevor sich die Teilnehmer in die Debatte stürzten, begann der Abend mit flotten Kurzvorträgen, in denen die eigene Bildauswahl erläutert und kommentiert wurde.
Manuel Herz beispielsweise präsentierte den MFO Park in Oerlikon von Burkhardt+Partner und Randerschall Landschaftsarchitekten (2002) als wegweisend. Ausgewählt habe er das Projekt, da es einen ganz und gar öffentlichen Raum aufspanne. Die metallene Struktur, an der Pflanzen empor ranken, sei immer zugänglich, kostenlos, perfekt ausgeführt und werde von der Bevölkerung respektvoll und pfleglich behandelt; die sonst virulente Videoüberwachung sei dort nicht notwendig. Zwar sei das Projekt nicht sonderlich «Swiss», doch könne es gleich nur in der Schweiz stehen.
Thomas de Geeter versuchte eine Traditionslinie zwischen seinen drei Bildern zu ziehen. So zeigte er das Berner Beatrice-von-Wattenwyl-Haus (1706) als vernakuläre Architektur. Die Schaufassade entwickelt sich unmittelbar aus der terrassierten Parklandschaft am Hang oberhalb der Aare. Ein Moment, welches de Geeter mit den Begriffen «Transformation» und «Assimilation» zu fassen suchte. Er sieht jenes sowohl beim Auditorium der Zürcher Universität von Gigon/Guyer (2002), als auch seinem eigenen Projekt, der Sanierung und Erweiterung der Kirchfeld Schule in Bern am Werk.
Grundsatzfragen
Irina Davidovici griff die Suche vieler Architekturschaffender nach einer eigenen Sprache auf und interessierte sich für das Ringen um klare Statements und eine starke Haltung. Sie fragte, wie sich die Schweizer Szene fortentwickeln könne, in einer Zeit da die grossen Vaterfiguren als Vorbilder allmählich ausgedient hätten. Es entspannte sich eine lebhafte Diskussion, welche die Themen Konstruktion, Tektonik und das Bauen im Bestand, beziehungsweise einem mitunter als mittelprächtig verstanden urbanen Kontext umkreiste. Sogar die Gretchenfrage, was Architektur sei, wurde verhandelt. Im fehlenden Mut, sich (politisch) zu exponieren, wurde ein wesentliches Problem identifiziert. Doch welcher Schritte bedarf es, um die Situation zu verbessern? Antworten darauf lieferten beispielsweise Stefan Kurath sowie Oliver Lütjens und Büropartner Thomas Padmanabhan.
Brüche akzeptieren
«Wir lieben die Stadt, die Gesichte, die Kontinuität und die Zeitlichkeit», sagte Oliver Lütjens. Wenig könnten er und Büropartner Thomas Padmanabhan der Beschäftigung mit vernakulären Bauten abgewinnen. Ihr Interesse gelte der intellektuellen Auseinandersetzung mit Architektur, dem historischen Framework und der Expression. Doch welche Lösungen haben beide für den Umgang mit dem fragmentierten, ungeordneten Bestand auf Lager? Brüche im urbanen fabric seien zu akzeptieren. Sie glätten zu wollen, wäre falsch, sagen sie. Dementsprechend hätten sie die Vision eines physisch kohärenten und zusammenhängenden Stadtraums, der einem grossen Plan entspreche, längst über Bord geworfen. Stattdessen versuchten sie mit formal reichen Architekturen Lücken im baulichen Gewebe der Stadt zu schliessen. Damit bezogen die beiden eine Gegenposition zu Vittorio Magnago Lampugnani, der zuletzt im Zuge der Vernissage von achtung: die schrift unterstrich, es brauche eine klare Vorstellung davon, wie Stadt als Ganzes aussehen und wie sie sich künftig entwickeln solle.
Politische Architekturkultur
Stefan Kurath ergänzte, ein Projekt alleine könne nicht sämtliche Probleme lösen; vielmehr bedürfe es einer politischen Architekturkultur. Es brauche Gestalter, die den Mut aufbrächten, politisch Position zu beziehen und Verantwortung zu übernehmen. Damit wiederholte er seine bekannte Forderung. Doch was konkret meint er damit? Man müsse sich einsetzen für Strukturentwicklung, Flüchtlingsunterbringung und gegen Armut – in der Schweiz wie im Ausland – forderte er. Architektur sei eben keine autonome Kunst und könne nicht von der Gemeinschaft losgelöst gedacht werden. Sie müsse als Kultur begriffen werden. Gestaltungen seien nicht bloss Ausdruck persönlicher Launen.
Auf David Klemmers Feststellung, die Schweizer Architekturszene drehe sich unaufhörlich im Kreis und habe nicht den Mumm, mit Neuem zu provozieren, antwortete Kurath indes, es werde zu viel zurückgeschaut. Statt progressiv zu sein, würden alpine Dorfwelten verklärt und zu Vorbildern stilisiert. Die grosse Zahl von im Zuge von Schweizweit eingereichten Bildern anonymer Chalets wertete er als Beweis dafür. Doch offen blieb die Frage, ob Wertschätzung für das Baukulturelle Erbe und der Wille zu neuen, kraftvollen Gestaltungen tatsächlich polare Gegensätze sind, oder am Ende doch Hand in Hand gehen können? (archithese wird am 21. Juni 2017 beim Pecha Kucha-Abend im Zürcher Landesmuseum sowie mit dem Heft Neues Feingefühl, das am 1. Juni erscheint, versuchen, entsprechende Positionen zu bergen.)
Mehr Gruppendenken und -dynamik
Es bleibt zu hoffen, dass die beteiligten Architekten gemerkt haben, dass ein Vergleich und eine Beziehungssetzung zu den Kollegen und den übergeordneten Themen gar nicht weh tut, die eigenen Leistungen nicht mindert (auch wenn dann sichtbar ist, wann und wie sie sich aus Inspirationen und Gesehenem speisen). Soll es künftig eine fruchtbarere Debatte oder gar eine politische Dimension in der Architektur geben, dann gilt es die selbst aufgeschütteten Inseln zu verlassen und über die gemeinsamen Fragen, Vorstellungen und Stossrichtungen nachzudenken – und das natürlich schweizweit oder besser noch auf europäischer oder globaler Ebene!
> Andreas Rubys Missionstatement als neuer Kurator des S AM.
> Elias Baumgarten hat Stefan Kuraths Buch Stadt gibt es nicht! rezipiert.