archithese in De Standaard
Anlässlich des aktuellen archithese Länderhefts 4.2024 Belgien und der Ausstellung Soft Power: Stadtmachen nach Brüsseler Art im S AM in Basel lud die belgische Tageszeitung De Standaard unter anderem archithese Redaktorin Nele Rickmann und S AM Kurator Andreas Kofler zu einem Gespräch. Der Artikel von Emmanuel van der Beek zur Architektur Brüssels aus einer «nicht-belgischen» Perspektive kann in der deutschen Übersetzung nachfolgend gelesen werden.
*** Der Artikel «Brussel is een laboratorium voor architectuur» von Emmanuel van der Beek erschien in Niederländisch am 3. Januar 2025 auf standaard.be ***
Brüssel ist ein Laboratorium für Architektur
Vor zehn Jahren übernahm Kristiaan Borret das Amt des Brüsseler Stadtbaumeisters. Ausländische Experten sehen den architektonischen Aufschwung der Hauptstadt. «Brüssel ist eine versteckte Perle für neue Architektur.»
In den letzten zehn Jahren hat sich in Brüssel einiges verändert. Am Nordbahnhof wurden die WTC-Türme entkernt und umgestaltet [51N4E / l’AUC / Jaspers-Eyers, ZIN, 2024]. In Anderlecht entsteht Manufakture, ein Gebäude mit Lebensmittelproduktion, Parkplätzen und einem Schwimmbad auf dem Dach [baukunst, Wettbewerb 2019]. Es gibt zahlreiche Projekte entlang des Kanals, wie die bunte Brauerei des Brussels Beer Project BBP [Office Kersten Geers David Van Severen, 2022]. Es gibt auch neue Wohngebäude, Parks und Plätze sowie einen Recyclinghof. Viele dieser Projekte wurden auf diversen Webseiten veröffentlicht, noch bevor sie fertiggestellt wurden.
Wenn man sich die Projekte anschaut, sieht man im Hintergrund auch ein anderes Brüssel: eine Stadt mit unübersichtlichen Rückseiten, anonymen Glastürmen, baufälligen Brachen am Kanal und engen Strassen mit dichtem Verkehr. Fotografien der Brüsseler Architektur sind immer Collagen. In derselben Stadt sind die Interieurs des Zuidpaleis vom Abriss bedroht und von einer Handvoll historischer Gebäude am De Brouckèreplein sind nur noch die Fassaden stehengeblieben. Dieser façadisme hat die Stadt nie ganz verlassen.
Kontraste umarmen
«Vielleicht ist es diese Heterogenität, welche die Architekt*innen inspiriert», meint Nele Rickmann, Redaktorin bei der Schweizer Architekturzeitschrift archithese. Wir sprechen mit ihr, weil wir wissen wollen, warum das Magazin eine Ausgabe dem Land Belgien gewidmet hat, und davon die Hälfte wiederum Brüssel. «Brüssel ist eine Stadt der Kontraste. Wir haben gesehen, wie Architekt*innen in Brüssel diese Heterogenität aufgreifen. Sie bekommen ein komplexes Stück Stadt auf dem Reissbrett und gehen auf sehr interessante Art und Weise damit um. Nicht umsonst nennen wir Brüssel in unserer Ausgabe ein urbanes Laboratorium. Hier scheint mehr möglich als in anderen Grossstädten.»
Was für eine Art von Architektur entsteht dabei? Entwürfe, welche die Stadt Stück für Stück verändern, meint Rickmann. Ideen, die behutsam an das Vorhandene anknüpfen, die bestehende Gebäude wiederverwenden, statt sie abzureissen. «Ich finde sie lebendig, leicht – und farbenfroh. Es ist eine Architektur, die oft eine gewisse Verspieltheit aufzeigt, auch wenn sie auf komplexe Herausforderungen reagieren muss.»
Eine Ausstellung über Brüssel, die in Zusammenarbeit mit dem Brüsseler Stadtbaumeister Kristiaan Borret organisiert wurde, läuft derzeit im S AM Schweizerisches Architekturmuseum Basel. Andreas Kofler ist einer der Kuratoren: «Brüssel ist nicht sofort als die schönste Hauptstadt Europas bekannt, aber für Architekt*innen ist die Stadt ein verstecktes Juwel, besonders für neue Architektur. Um die Jahrtausendwende schauten alle in die Niederlande, aber das hat sich still und leise verschoben.»
Das liegt daran, so vermutet Kofler, dass die Umverteilung hier schon früh auf der Tagesordnung stand. Die Hälfte der in der Basler Ausstellung gezeigten Projekte sind Bestandsumnutzungen. Wer sich die Arbeiten unter Kristaan Borret anschaut, sieht einen ähnlichen Trend. In einer bebauten Stadt wie Brüssel gibt es keinen anderen Weg. Oder doch? Die Ironie der Geschichte besteht darin, dass viele der Gebäude, die jetzt bewusst wiederverwendet werden, wie die WTC-Türme, nur auf Kosten anderer, manchmal wertvoller Gebäude entstanden sind.
Für den blinden Abriss, für den Brüssel lange Zeit berüchtigt war, mussten vielerorts Gebäude weichen. Das Ergebnis sehen wir jetzt, meint Kofler. «Die Wiederverwendung bringt spannende Projekte hervor, wie zum Beispiel Kanal [noAarchitecten / EM2N / Sergison Bates Architects, KANAL – Centre Pompidou, voraussichtlich 2025]. Ein solches Gebäude ist wie kein anderes in der Stadt verankert. Kanal hat das Potenzial, die neue Tate Modern zu werden.»
Ellis Woodman hat diesen Trend erkannt. Er ist Präsident der British Architecture Foundation und schreibt für bekannte Architekturmagazine, unter anderem über Brüssel. «In Brüssel ist man sehr geschickt darin, mit bestehenden Gebäuden zu arbeiten. Das ist anders als zum Beispiel in den Niederlanden, wo viele Architekt*innen immer noch daran gewöhnt sind, Neues zu entwickeln. Belgien, und insbesondere Brüssel, entwickelt sich zu einem weltweit führenden Land in der Wiederverwendung von Gebäuden. Ich denke, britische Firmen können viel von den Herangehensweisen in Brüssel lernen.»
Auf die Frage nach seinem Lieblingsprojekt verweist Woodman auf Watermaal-Bosvoorde, wo das Londoner Architekturbüro Caruso St John Architects zusammen mit Bovenbouw Architects das Bürogebäude Royale Belge umgebaut hat. Heute beherbergt es unter anderem ein Hotel und ein Spa und ist lebendiger denn je.
Einbindung der Bewohnerschaft
Um den Erfolg zu erklären, verweist man gerne auf den Stadtbaumeister der Region Brüssel. Dieses Amt wurde 2009 von Olivier Bastin und ab 2014 von Kristiaan Borret, dem früheren Stadtarchitekten von Antwerpen, übernommen. Nach Ansicht der Journalist*innen, mit denen wir gesprochen haben, hat Borret dazu beigetragen, eine lebendige Architekturkultur zu schaffen, und es ist ihm gelungen, seine Arbeit auch im Ausland bekannt zu machen.
Dies ist auch die Meinung von Kaye Geipel, der im vergangenen Sommer mit Bauwelt eine Ausgabe über Brüssel veröffentlicht hat. «Der Stadtbaumeister hat wenig politische Macht, also musste er andere mit Ideen überzeugen. Bei diesen Ideen ging es um relevante Themen: wie man von dem ausgehen kann, was vorhanden ist, wie man das Kleingewerbe in der Stadt halten kann, wie man die Einwohner*innen in die Gestaltung einbeziehen und wie man die Stadt anpassungsfähig machen kann. Indem auf diese Ideen gesetzt wurde, hat Brüssel international eine Vorreiterrolle eingenommen.»
Dennoch hat der Brüsseler Stadtbaumeister seine Position in den Planverfahren verankert. So müssen beispielsweise Genehmigungsanträge für Gebäude mit einer Fläche von mehr als 5000 Quadratmetern zwingend den Stadtbaumeister passieren, um eine Stellungnahme zur architektonischen Qualität zu erhalten. Darüber hinaus überwacht er und sein Team Forschungsprojekte, die zur Gestaltung der Verfahren beitragen. Interessanterweise hat der Brüsseler Stadtbaumeister auch ein Mitspracherecht bei privaten Projekten erhalten, was sein flämisches Pendant noch nicht hat. Woodman sagt: «Der Stadtbaumeister formuliert im Voraus Erwartungen darüber, wie die Stadt entwickelt werden soll, und garantiert so, dass die Stadt nicht nur auf den privaten Sektor reagiert, sondern ihn vorwegnimmt.»
Das wichtigste Instrument sind Architekturwettbewerbe. Nele Rickmann sieht, wie ausländische Architekt*innen dabei mit grossen Augen auf Brüssel schauen. «In der Schweiz müssen die Beiträge für Architekturwettbewerbe bis ins kleinste Detail ausgearbeitet werden. Noch bevor der Entwurf ausgewählt wird, müssen Architekt*innen in fast allen Punkten beweisen, dass er funktioniert. Ausserdem wird oft von ihnen verlangt, dass sie Erfahrung mit ähnlichen Aufgaben haben. Das wiederum verringert die Chancen junger Büros mit kleinem Portfolio teilzunehmen. Bei dem neuen Wettbewerbssystem von Kristaan Borret müssen die Pläne noch nicht vollständig entwickelt sein. In Brüssel geht es also wirklich um die rohe Idee.»
Kristiaan Borrets zweites Mandat lief Ende 2024 aus. Die Brüsseler Regierung verlängerte seine Amtszeit um maximal vier Monate, bis ein Nachfolger ernannt wird.
> Zur Originalversion des Artikels auf standaard.be