Architekturbiennale 2023
Am 20. Mai wurde die diesjährige Architekturbiennale in Venedig eröffnet. Unter dem Titel «The Laboratory of the Future» wird dieses Jahr zum ersten Mal ein anderer Fokus gesetzt: Im Mittelpunkt stehen Arbeiten von vielen für uns unbekannten Praktizierenden. Die diesjährige Biennale ist daher gleichsam eine Herausforderung wie auch ein Erfolg.
Zürich, 24. Mai 2023
Hubertus Adam: Die Architekturbiennale ist für uns, die wir während des pre-openings dabei waren, immer eine grosse Challenge, anders ausgedrückt: Stress. Wir waren zwei Tage während der Presseeröffnung dort, aber man hat dann gerade einmal einen Überblick über das, was ausgestellt wird. Vermutlich haben wir einiges verpasst, was interessant gewesen wäre. Damit müssen wir umgehen. Aber lasst uns, bevor wir zu den Länderpavillons kommen, erst einmal über die Hauptausstellung sprechen.
Sie wurde in diesem Jahr von Lesley Lokko verantwortet. Erst die dritte Frau in der Geschichte der Architekturbiennale – nach SANAA und Grafton. Lesley Lokko ist Architektin und Schriftstellerin, sie hat ghanaische und schottische Wurzeln. «The Laboratory of the Future» heisst das Thema der Biennale. Die Ausstellung erstreckt sich über den italienischen Pavillon in den Giardini, die Corderie des Arsenale und den Aussenstandort im Forte Marghera in Mestre auf dem Festland. Was ist Euer erster Eindruck von dieser Schau?
Nele Rickmann: Ich finde das Thema der diesjährigen Biennale wichtig und interessant. Seit Beginn der Architekturbiennale im Jahr 1980 lag der Fokus zum grossen Teil auf den westlichen Ländern. Welches Land Afrikas hat zum Beispiel einen Pavillon in den Giardini? Oder wurde schon mal eingeladen, einen wesentlichen Beitrag zur Biennale beizusteuern? Diese Gedanken öffnen eine grosse Schublade, in der sich die Fragen nach Wertschätzung und Anforderungen an die Finanzierung dieser Ausstellung verorten… Nichtsdestotrotz versucht die Biennale mit dem diesjährigen Thema aus dem Trott rauszukommen und sich zeitgemäss zu verorten.
Ob das gelungen ist? Ich denke als erster Schritt schon, da sie grundlegend aufmerksam macht: aufmerksam auf all die Namen der Ausstellenden, die wir nicht kennen, auf Projekte, die gegenwärtig schon seit Jahren mit gesellschaftlichen und klimatischen Krisen zu kämpfen haben – und auf all die Vielfältigkeit, unter der sich Architektur verstehen lässt. Einige mögen bemängeln, dass die Ausstellung zu visuell, zu künstlerisch sei, dass man zu wenig Architektur sehe, im räumlichen Sinne, als Modelle zum Beispiel. Ich aber bin der Meinung, dass gerade diese Aspekte der Ausstellung guttun, da sich Architektur eben nicht nur auf räumliche Erfahrungen beschränken lässt, sondern so viel mehr ist: Poesie, Handwerk, Kultur, Krisen, Vergehen und Zukunft. Meiner Meinung nach werden auf der diesjährigen Biennale Projekte gezeigt, von denen wir viel lernen können, und die uns zum Nachdenken anregen, was Architektur alles ist und sein kann. Was versteht ihr unter dem Titel «The Laboratory of the Future» und wie zeigt sich das in der Ausstellung?
Hubertus Adam: Ich musste auch zunächst überlegen, was das Zukünftige an der diesjährigen Architekturbiennale sein soll. Wenn ich es recht verstehe, ist für Lesley Lokko Afrika der Kontinent der Zukunft schlechthin. Gemäss Diébédo Francis Kéré, neben David Adjaye einer der auch im Westen bekannten Teilnehmenden, ist – so heisst es zumindest in seinem Beitrag in den Giardini – der riesige Kontinent Afrika nur für vier Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich. Das wird zukünftig nicht so bleiben, und insofern kommt es sicher darauf an, wie Afrika sich weiter entwickeln wird. By the way: Die politische Dimension auf dieser Biennale bleibt für mich etwas unterbelichtet.
Lesley Lokko zufolge ist Afrika aber auch ein Kontinent der Zukunft, weil hier die traditionellen Rollen gesprengt werden. Sie spricht im Ausstellungsteil im Arsenale nicht von Architekt*innen, Ingenieur*innen, Stadtplaner*innen oder Akademiker*innen, sondern von practitioners, also Praktizierenden. Diese Hybridisierung von Disziplinen erscheint ihr typisch für Afrika. Bemerkenswert ist, dass sie vor allem kleine Büros ausgewählt hat – Büros mit maximal fünf Personen. Adjyaye oder Kéré sind daher Ausnahmen.
Im italienischen Pavillon in den Giardini werden in separaten Räumen 16 Positionen vorgestellt. In den Corderie des Arsenale ist die Ausstellung für mich spannender, da die einzelnen Ausstellungsbeiträge eher verschmelzen und sich überlagern. In beiden Ausstellungsteilen treten darüber hinaus die «Guests from the Future» auf: jüngere architektonisch-künstlerische Positionen aus Afrika oder der afrikanischen Diaspora. Diese Multiperspektivität ist für mich einerseits anregend, andererseits hatte ich mitunter Schwierigkeiten, dem Erzählstrang – oder besser: den Erzählsträngen – zu folgen. Wie ist es Euch gegangen? Mir erschienen die Narrative etwas esoterisch. Ich verstehe sehr gut, dass Afrika nicht immer als ein Problemkontinent dargestellt werden sollte: Hunger, Kriege, Migration. Ist aber das Bild, das Lokko und die Teilnehmenden zeichnen, nicht doch auch wieder etwas klischeebehaftet? Fast etwas lieb, harmlos und schön?
Viktoriya Yeretska: Für mich ist dies ein weiterer Beleg dafür, dass der in die Zukunft und auf den afrikanischen Kontinent gerichtete Blick mit positiven Bildern besetzt werden soll. Ich persönlich finde diesen Optimismus eher erfrischend und anregend. Die gegenwärtigen Probleme, die Zahlen und Fakten sind ja längst bekannt. Lesley Lokko hat auf der Biennale eine andere Dimension und vor allem die kreative Kraft zeigen wollen, die wir bisher nur wenig kennen. Insofern habe ich auch zum Ende des Arsenale-Besuchs das Gefühl gehabt, den Faden verloren zu haben. Ich finde auch, dass die Beiträge indirekt durchaus politisch waren, jedoch anders, als man es vielleicht erwarten würde, weniger direkt, weniger akademisch. Vielleicht ist es auch schon politisch, dass sich die Ausstellung eben diesem einfachen Konsum entzieht und eine tiefere Auseinandersetzung mit den dort präsentierten komplexen und vielschichtigen Themen einfordert. Und das, obwohl die Ausstellung dieses Mal nicht mit Texten und Exponaten überladen ist – man muss definitiv mehr Zeit mitbringen, um in diese – für uns zum Teil fremde Welt – eintauchen und Bezüge zwischen den einzelnen Beiträgen herstellen zu können. Welche Arbeiten sind Euch am meisten in Erinnerung geblieben? Was hat Euch überrascht?
Hubertus Adam: Mir gefällt zunächst einmal der poetische Ansatz von Lesley Lokko. Da zeigt sich in sehr positivem Sinne, dass sie nicht nur Architekturtheoretikerin, sondern auch Schriftstellerin ist. Über dem Durchgang zum nächsten Saal findet sich ein Zitat von Anatole France: «Alle Veränderungen, auch die meist ersehnten, besitzen ihre eigene Melancholie; denn was wir hinter uns lassen, ist Teil unserer selbst; wir müssen für ein Leben sterben, bevor wir in ein anderes eintreten können.» Der Raum ist in tiefem Blau gehalten, und Lokko bezieht sich auf die «blaue Stunde» mit ihrer «seltenen chromatischen Schönheit» – ein Moment zwischen Traum und Erwachen, ein Moment der Hoffnung.
Damit wird ein fast romantischer Akkord angeschlagen, der zumindest diesen Teil der Ausstellung grundiert. Die Präsentation im Arsenale hat Lokko mit «Liaisons Dangereuses» betitelt und bezieht sich damit auf eine Sentenz aus dem gleichnamigen Stück von Choderlos de Laclos, der zufolge die Zukunft zu hell sei, um sie mit menschlichem Auge zu sehen. Angesichts des funktionalistischen Pragmatismus, dem die Architekturproduktion gemeinhin gehorcht, finde ich diesen Ansatz überaus inspirierend – weil er schillert und vielleicht auch etwas irrlichtert, man könnte auch sagen: irritiert. Die Präsentation im italienischen Pavillon überschreibt Lokko mit «Force Majeure» – was man wahlweise mit «höherer Gewalt» oder «grosser Kraft» übersetzen kann. Das war jetzt eher ein Statement zur kuratorischen Strategie – aber vielleicht fahrt Ihr mit Beiträgen fort, die Ihr als besonders sehenswert erachtet?
Viktoriya Yeretska: Das Zitat und diese Einleitung in die Arsenale-Ausstellung haben mich auch berührt. Letztlich beschreibt es für mich sehr gut die Gesamtstimmung der diesjährigen Biennale (sowohl im Arsenale als auch in den Giardini), die irgendwo zwischen Melancholie und Hoffnung, Vergangenheit und Zukunft, Traum und Erwachen oszilliert.
Die Mitte der Arsenale Ausstellung hat die forensische Forschung eingenommen. Noch vor einigen Jahren war es eher ein sehr kleiner künstlerischer Randbereich, dominiert von der inzwischen bekannten Londoner Gruppe Forensic Architecture und ihrem Gründer Eyal Weizman. Dieses Jahr sieht man weitere Beiträge, unter anderem Killing Architects aus den Niederlanden, die sich der Untersuchungen der Zwangsarbeits- und Umerziehungslager in China verschrieben haben. Das heisst für mich, dass die Grenzen zwischen Architektur und anderen Disziplinen immer weiter aufgebrochen werden und ganz im Sinne von Lesley Lokko zur spannenden Hybridisierung der Arbeitsfelder beitragen.
Ausserdem können die Erkenntnisse und ein neuer Blick auf die Vergangenheit eine Inspiration für die zukünftige Entwicklungen werden. Dies zeigt für mich der Beitrag «Nebelivka Hypothesis» von Eyal Weizman und David Wengrow ganz eindrücklich. Eine forensische Studie zu archäologischen Ausgrabungen einer 6000 Jahre alten mythenbehafteten Tripilja-Siedlung inmitten der heutigen Ukraine, einer der ältesten bisher nachgewiesenen menschlichen Zivilisationen weltweit. Dieser kreisförmig angeordneten Siedlung fehlt ein gebautes Zentrum, das entweder noch nicht gefunden worden ist oder nie existierte. Die letztere Option würde auf die Möglichkeit von hierarchielosen Gesellschaftsorganisation hindeuten – also eine historische Diskontinuität, die uns Austellungsbesucher*innen wiederum von alternativen Modellen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und letztendlich auch der Stadt träumen lässt.
Nele Rickmann: Wenn wir jetzt schon so viel über die Ausstellung im Arsenale geredet haben, gehe ich auf die Länderpavillons in den Giardini ein. Interessant fand ich, dass die deutschsprachigen Länder Schweiz, Österreich und Deutschland in ihren Pavillons alle ein ähnliches Thema je anders behandelt haben. Im Fokus stand bei allen dreien das Sich-Öffnen zu dem jeweiligen Nachbarn: die Schweiz zu Venezuela, und Österreich sowie Deutschland über das Giardini-Gelände hinaus nach Venedig. Es ging also allen darum, Grenzen zu öffnen, Wände einzureissen und gemeinschaftliche Zusammenhänge zu verdeutlichen.
Besonders gefallen hat mir der Pavillon Österreichs, da unter dem Titel «Partecipazione / Beteiligung» durch Hermann Czech und dem Architekturkollektiv AKT aus der Not eine Tugend gemacht wurde. Das eigentliche Konzept, den Pavillon zu teilen und eine Hälfte zum Austausch mit der angrenzenden Nachbarschaft Venedigs zu öffnen, wurde aufgrund der Biennale-Regularien abgelehnt. Dieser Prozess und Protokolle von Sitzungen mit den jeweiligen Beteiligten sowie finale Absagen der Biennale zu Brücken über und Passagen durch die Grenzmauer der Giardini sind im Pavillon ausgestellt. Geteilt wurde er jedoch allemal, und so ist die eine Hälfte – vorgesehen für den Austausch mit der Nachbarschaft – leergeblieben. Es gibt jedoch eine Treppeninstallation, die von den Giardini aus einen Blick über die Mauern in das angrenzende Wohnviertel mit Park ermöglicht. Eindrucksvoll und zum Nachdenken anregend – vor allem wenn man an die Probleme denkt, mit denen sich Venedig auf Grund der Biennale(n) konfrontiert sieht.
Von meiner Seite noch kurz zu dem Deutschen und Schweizer Pavillon: Das Konzept des Deutschen Pavillon fand ich solide, gut und einen wichtigen Beitrag für die weitere Entwicklung der Biennale – vom Hocker gerissen hat es mich dennoch nicht. Ähnlichkeiten lassen sich zu dem Konzept des japanischen Beitrags zur Biennale 2021 erkennen. Work in Progress unter dem Titel «Open for Maintenance – Wegen Umbau geöffnet» ist für die Beteiligten der ARCH+ gGmbH, Summacumfemmer sowie Büro Juliane Greb dieses Jahr Thema und ich bin gespannt, wie die für die Stadt Venedig gebauten Elemente aus den im Pavillon versammelten Spolien der letzten Biennale funktionieren und angenommen werden. By the way: Die deutsche Party war dieses Jahr auf jeden Fall die Beste, weil sie nicht exklusiv war, sondern als Nachbarschaftsfest für alle funktioniert hat, und das fand ich besonders schön. Da können sich andere etwas abschauen!
Und der Schweizer Pavillon «Neighbourhood» von Karin Sander und Philip Ursprung? Um mich zu überzeugen hat hier einfach ein letzter Schritt gefehlt, nämlich nach der Öffnung zum venezolanischen Pavillon eine gemeinsame Ausstellung zu organisieren. Das hat wahrscheinlich auch auf Grund von Regularien nicht funktioniert, aber im Unterschied zum österreichischen Pavillon wird das dann eben auch nicht thematisiert, obwohl gerade das ja eigentlich am Ende das Spannende ist, oder? So blieb es wirklich nur ein Art Türöffner, wo man sich allerdings fragen muss: Was jetzt? Und wie geht das weiter? Schade, dass es dieses Jahr dabei geblieben ist – vielleicht kommt ja nächstes Jahr dazu mehr!
Jetzt habe ich wirklich viel geschrieben… Noch kurz zum Abschluss: Es wurde wieder der Goldene Löwe verliehen. Dieses Jahr ging er an Brasilien. Nach meinen Gesprächen mit unterschiedlichen Leuten habe ich aber das Gefühl, dass der österreichische Pavillon wirklich vielen ausserordentlich gut gefallen hat. Klar, dass ihm auf Grund der Unstimmigkeiten nicht der Biennale-Preis verliehen wurde, bei vielen hat er aber insgeheim trotzdem gewonnen. Welcher Pavillon wäre denn für Euch der heimliche Gewinner?
Viktoriya Yeretska: Der diesjährige Gewinner des Goldenen Löwen, Brasilien, und die lobende Erwähnung, Grossbritannien, fand ich aus ästhetischer Sicht überaus gelungen, konnte aber inhaltlich nicht ganz mitkommen. Ich glaube, dass für mich persönlich kein konkreter Länderbeitrag den Golden Löwen verdient hat, sondern eher die sozial-politische Message des Öffnens, die Du schon angesprochen hast, Nele: der Zugang zu Ressourcen, Wissen, Fähigkeiten, Räumen… und das alles überlagert von einer gewissen pädagogischen Komponente und der Fokusverschiebung auf das Alltägliche. Es wurde viel Platz den Dingen eingeräumt, die von Architekt*innen immer wieder reproduziert werden, ohne sie zu hinterfragen und Themen, die eher stiefmütterlich behandelt werden.
Im Deutschen Pavillon dreht sich alles in gewisser Weise um den menschlichen Körper selbst: wie schafft man Zugänglichkeit für alle, ohne die ästhetische Qualität der Architektur zu zerstören? Wie viel körperliche Arbeit muss man eigentlich investieren, um die Materialien händisch abzubauen, zu inventarisieren, bereitzustellen und dann daraus wieder Neues zu machen? Wie zeitgemäss ist noch die Geschlechtertrennung in den Toilettenräumen? Besonders gelungen finde ich, dass hier eine Abkehr von der üblichen DIY-Ästhetik und dem Shabby-Chic stattfindet und gezeigt wird, wie man das anders umsetzen kann. Bei der neuhinzugefügten Rampe am Eingang des Pavillons mussten tatsächlich einige Besucher*innen überlegen, ob sie nicht schon immer da gewesen ist. Und ja, die Aufforderung der österreichischen und schweizer Beiträge, sich mit seinen Nachbarn, mit der gesamten Umgebung auseinanderzusetzen – also der Stadt Venedig –, die die Biennale mit jedem Jahr mehr und mehr besetzt, sollte man unbedingt annehmen! Was können und müssen wir voneinander lernen?
Denn blickt man hinter die Kulissen der Biennale, mit ihren doch grösstenteils exklusiven Partys und Events, dann vermisst man den Austausch zwischen den Gästen und Stadtbewohner*innen und zwischen den einzelnen Ländern. Es liegt also noch viel Arbeit vor uns, um sich – architektonisch und menschlich – dem Neuen zu öffnen.