Am Leben vorbei normiert
Beobachtungen zum unterdrückten Identifikationsbedürfnis
Der «Esprit de la série» war eine der Losungen des neuen Bauens, ausgelöst durch die grenzenlose Faszination neuer Möglichkeiten von Mechanisierung und Automatisation, die in dem Buchtitel «Mechanizalion takes command» einen dramatischen Ausdruck fand. Mit der grossen Serie war die Hoffnung auf ein besseres und gerechteres Zeitalter verbunden, ja die Gleichartigkeit der Serienprodukte und -häuser war motiviert mit dem ethischen Ideal der Gleichheit.
Die Faszination der Serie ging so weit, dass man auch beim Bauen ohne das individualisierende Element auszukommen glaubte, als Ausdruck einer neuen Gesellschaft von Gleichberechtigten.
Aber was auf mehr Freiheit zielte, kehrte sich ins Gegenteil, die Serie führte zu Teilnahmslosigkeit der Bewohner: «Das Individuum verliert an Bedeutung, sein Schicksal ist für uns nicht länger von Bedeutung» (Mies v.d. Rohe).
Die ursprünglich sozialreformerische Ausrichtung führte zu einer einengenden Fremdbestimmung, deren Konsequenz der synthetische, identitätslose Mensch war. Die Gleichberechtigten wurden zu Gleichgemachten, die kein Gesicht zeigen durften, der Fortschritt verkehrte sich in sein Gegenteil: die Menschen wurden fortan uniform und gesichtslos behaust. Ein urbaner Totalitarismus, alles auf einen Nenner zurückführend und herunterrationalisierend, führte zur grossen Monotonie.
Jede wirkliche Monotonie ist lebensfeindlich, denn sie existierte im Naturraum, der das Leben in Hunderttausenden von Jahren formte und prägte, nicht. Was Monotonie sei, wurde in den letzten beiden Monotonienummern von werk archithese in einem intellektuellen Spuk in sträflicher Weise verharmlost und verschleiert, und zwar mittels einer Manipulation, indem Monotonie einfach mit Wiederholung gleichgesetzt wurde. So einfach ist das.
Text: Rolf Keller
erschienen in: archithese 21/22.1978, Dorf, S. 39-41.
Ein Rätsel
Es bleibt ein ungelöstes Rätsel, dass die Protagonisten des Funktionalismus, die auszogen, um eine humane, menschenwürdigere Architektur zu schaffen, unfähig blieben, sich mit den Betroffenen zu solidarisieren, d.h. selbst so zu leben wie diese, seriell im uniformen Reihenhaus oder im sterilen Wohnsilo. Und dabei blieb es – bis heute.
«Lernen vom Schrebergarten»
Leider gab es kein Frühwarnsystem und damit auch keine Abwehr gegen diese lebensfeindliche Entwicklung der kalten Massenproduktion.
Die Publikation etwa über Le Corbusiers Reihenhaus-Siedlung Pessac, die aufzeigte, wie die Einzelhäuser durch die Eigentümer individualisierend umgebaut wurden, blieb kaum bemerkt. Am liebsten hätte man diese Schändung durch ein stilreines Zurückrestaurieren wiedergutgemacht.
Doch langsam beginnt man auf die schüchterne Selbstverwirklichung des kleinen Mannes (des Betroffenen!) in Schrebergarten und Bidonville zu achten.
«Und seltsam: Was bisher als eine Störung des vom Entwerfer gewollten ästhetischen Effekts gewertet worden ist, erscheint uns heute als schön. Inmitten der Brutalität ... öder Geschäftsviertel und Wohnsilos ... ,erscheint die Welt der Schrebergärten, ja erscheint sogar Bidonville nicht nur als Art der Zufriedenheit, sondern auch als Art ästhetischer Erhebung, weil sichtbar wird, wie sich der Mensch nicht von den Dingen einengen lässt, sondern sie verändert. Die Diskussion um die Ästhetik der Partizipation ist erst angelaufen – wie 1914 der Prolotypenstreit, so ist hier die schicksalhafte Diskussion des Werkbundes 1977.» (Lucius Burckhardt)
Die Bidonvilles, einseitig als Slums qualifiziert und deshalb in den Entwicklungsländern unter Polizeieinsatz geräumt und von Bulldozern niedergewalzt, werden als eine «Architektur des Widerstandes» (archithese 9) erkannt. Widerstand gegen die Lebensraumverstümmelung.
Schrebergärten, Bidonvilles, Hippiesiedlungen und individualisierte Levittowns sind Antworten des Benützers auf repressive Fremdbestimmung, respektive Ausdruck des menschlichen Identitätsbedürfnisses. Noch deutlicher ausgedrückt: Individualität und Identität dürfen nicht nur ein Privileg der Begüterten sein, sondern müssen ermöglicht werden (wie das seit Urzeiten der Fall war).
Territorialität bei Mensch und Tier
Territorialität ist die exklusive Beanspruchung eines Raumabschnittes. Dieses Verhaltensmuster, bei vielen Tierarten angeboren, tritt bei vielen menschlichen Gesellschaften auf, scheint aber angelernt zu sein. Territorialität gibt Freiheit wie Gebundenheit und ermöglicht Assimilation (alte Amerikaner z.B. bekommen oft ein Indianergesicht). Als Ergebnis der stammesgeschichtlichen Entwicklung bildet sich Eigentum als ein seelisch fixiertes Grundbedürfnis. Boden möchten wir besitzen, weil alles im Boden enthalten ist, wovon wir leben. Das Grundbuch stellt deshalb noch immer eine säkularisierte Landnahme dar. Der Garten bildet den Zugang zum selbst gestaltbaren Anteil Erdoberfläche. Eine Wohnung ist folglich kein echtes Territorium.
Mieterschutz als Grundbedürfnis
Ein Wohnungsmieter hat demnach in der Regel eine geringere Befriedigung seines territorialen Bedürfnisses, was deshalb die Bestrebungen zur Erweiterung des Mieterschutzes solange fortsetzen wird, bis das Eigentum der Wohnungsvermieter an ihren Liegenschaften seines Inhaltes weitgehend entleert sein wird. Die konsequenteste Befriedigung dieses Bedürfnisses ist wohl die totale Streuung des privaten Eigentums.
Unverwechselbarkeit als Voraussetzung der Territorialität
Eine entscheidende Voraussetzung der Territorialität ist Unverwechselbarkeit, Identifikation des Territoriums. Dies erst ermöglicht Orientierung und Zuordnung zu einem Individuum oder einer Gruppe. Synonyme sind Einprägsamkeit, Bildhaftigkeit, Ablesbarkeit, Anschaulichkeit, Greifbarkeit (davon be-greifen). All das verleiht dem darüber Verfügenden gefühlsmässige Sicherheit. In der Monotonie von Wohnsilos, Laubengängen und Liften hingegen verirrt und verliert man sich. Verirrt sein, sich nicht identifizieren können mit der Umgebung, erzeugt Unsicherheit und Angst. Ein Grund für die Orientierungslosigkeit des heutigen Menschen.
Ohne Identifikationsmöglichkeit kann man nicht eigentlich leben. Untersuchungen in Grenzfällen der Fremdbestimmung könnten dies bestätigen. So etwa am Arbeitsplatz im Bürocontainer, den man (wenn auch noch so kitschig und hilflos) mit Ansichtskarten, Bildern, Pflanzen, Kalendern usw.) zu markieren versucht – oder noch extremer in der Gefängniszelle, die der Häftling mit Zeitungsbildern und Souvenirs kenntlich machen wird. Tut er es nicht mehr, hat er sich selbst wohl bereits aufgegeben.
Kevin Lynch schrieb: «Das Kenntlichmachen der Umgebung ist eine lebenswichtige Fähigkeit aller sich fortbewegenden Tiere. Identifizierung macht die Unterscheidung möglich, einen Gegenstand als Separat-Wesen zu erkennen. In seiner Umwelt benennt der primitive Mensch z.B. die kleinsten Bestandteile seiner Landschaft mit einer Vielzahl von Ortsnamen, selbst in unbewohnten Landstrichen» (The lmage of the City).
Die Ästhetik echter Partizipation
Noch gibt es Leute, die glauben, durch Umerziehung den Menschen von diesem stammesgeschichtlichen Bedürfnis abbringen zu müssen. Sicher eine falsche Spur, denn die Prägung von 3000 Generationen kann nicht vom Tisch gewischt werden.
Partizipation steht in Architektengesprächen hoch im Kurs, doch wird sie von jenen, die noch immer Typisierung für die Betroffenen zelebrieren, auf den Bereich der «inneren Flexibilität» beschränkt. Aber die Mieter interessieren sich wenig für die ausgeklügelten Systeme der verstellbaren Wände. Deshalb weicht der Betroffene, dem der Funktionalismus nur im Ausnahmefall des «individuellen Einfamilienhauses» bereit war, Identität zu verleihen, aus: in alle Arten von Disneylands (Schrebergärten, alpiner Ferienstil, kitschige Restaurants und selbst Weltausstellungspavillonarchitekturen).
Echte, volle Partizipation gibt es nur dort, wo der Einzelne selbst über Form und Inhalt entscheiden kann, um sich seinen natürlichen Antrieben gemäss entfalten zu können. Frei ist der Einzelne, wenn nicht von aussen über ihn verfügt wird. Er ist also kein Betroffener mehr. Freiheit heisst aber nicht ungehindert bestimmen können. Es gehört dazu die Bindung an Inhalte, die ihn wiederum frei machen.
Identifikation ist selbstverständlich, solange der Mensch sein Haus selbst baut oder der Kleingärtner nicht zum Kauf von Normschreberhäuschen gezwungen wird. So wird er an das Gartenhaus seine ganze überquellende Phantasie verschwenden. Gleiches gilt für die Alternativbauten der kalifornischen Hippiesiedlungen, für die normierten Levittowns, die dann aber meist in Eigenleistung individualisiert werden, oder die selbst gebauten Häuser, wie man sie oft in der BRD antrifft.
Echte Partizipation der Benützer und Eigentümer an Planung und Gestaltung des eigenen Lebensraumes führt zu Unverwechselbarkeit, zu Identität. Diese ist im Äussern wichtiger als im Innern, da letzteres (mit der Ausstattung) eher veränderbar ist. Und damit sind wir bei der Fassade. «Venturi war derjenige, der der Architektur Sprache zurückgab, der in der Fassade nicht mehr die Lüge, sondern – wie das Wort sagt – das Gesicht des Bauwerkes erkannte» (Heinrich Klotz, werk · archithese 3/77). Die eigene Fassade als persönliche Geschmacksanzeige oder -markierung ist verhaltenspsychologisch nicht nur legitim, sondern ein Anspruch des Lebens. Dies dürfte die noch im Schema der Serie Befangenen nicht hindern, die daraus resultierende Architektur der bildhaften, auf Inhalte bezogenen Phantasie einfach als Formalismen abzutun. Und zwar so lange, bis man den Individuations- und Selbstdarstellungsdrang der Betroffenen ebenso akzeptiert wie den eigenen.
«Denn nicht nur politische, auch ästhetische Selbstbestimmung muss wachsen und erfahren werden». (Margit Staber)
Identifikation nur für Privilegierte?
So war es bisher – genauer: seit der lndustrialisierung, denn früher gab es diese Repression nicht. Im Funktionalismus wurde sie dann so recht zementiert. Das Individuelle, das Eigene, wurde disqualifiziert und von der damaligen Avantgarde bekämpft, die aber zu ihren Postulaten nicht stand, sondern selber «individuell» lebte.
Noch ist identitätsorientiertes Bauen teurer, aber wenn erst einmal erkannt wird – von den Architekten, den Soziologen, den Baugenossenschaften, Pensionskassen und Liegenschaftenverwaltungen – dass diese Art Bauen lebensgemässer ist, dann werden sich Wege finden, sie allen Schichten zu ermöglichen. Dann werden solche Projekte gefördert, subventioniert, prämiert, dann werden Wege der Eigenleistung beim Hausbau honoriert werden. Vor allem werden dann ganze Vorstadteinöden in dieser Art umzubauen sein. Anzeichen dafür sind bei Bausystemen für konsolidierbare Bidonvilles ebenso wie bei individualisierbaren Wohnsiedlungen wenigstens in Projekten bereits da.
Durch solches Kenntlichmachen der anonymen Wohn-, Geschäfts-, Büro-, Bildungs- und Strassen bauten könnte schliesslich das Dorf, die Stadt, die Umwelt wieder eine Identität, ein Gesicht bekommen.
> Der Kommentar ist ursprünglich erschienen in archithese 21/22.1978, Dorf.