Aus welchem Land kommen Sie?


Kritisch und erfahren

Roman Hollenstein prägte als Redaktor für Architektur und Design über viele Jahre das Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung. Im Juli 2017 ging er in Pension. archithese hatte die Gelegenheit, mit ihm über seine Arbeit als Kritiker zu sprechen.

 

Interview: Cyrill Schmidiger – 18.10.2017
Foto © NZZ

 

Herr Hollenstein, Sie sind seit über dreissig Jahren im Architekturjournalismus tätig. In dieser Zeit ist viel passiert, die Medienlandschaft hat sich stark verändert. Gerade auch durch das Internet und die Digitalisierung. Wie erleb(t)en Sie diese Veränderungen als Kritiker mit? Wo sehen Sie Chancen und Probleme?

Die Veränderungen gingen ganz langsam voran. Erst in den letzten zwei Jahren wurde immer deutlicher, dass die Printmedien sich mehr und mehr in den Online-Bereich zu verabschieden gedenken. Dies obwohl viele Leserinnen und Leser den Komfort einer gedruckten Zeitung oder Zeitschrift lieben. Dennoch sehe ich durchaus Chancen bei der Veränderung der Medienlandschaft durch das Internet: vor allem darin, dass viele Texte nun online eine weitere Verbreitung erfahren. Aber mit jeder Chance kommt auch ein Problem: etwa, dass mittlerweile fast jeder Laie sich in Foren ganz unreflektiert über Architektur äussern und Architekten ihre mehr oder weniger gelungenen Werke ungefiltert auf Architekturplattformen veröffentlichen können. Das wiederum könnte vielleicht das Interesse an unabhängigen Instanzen wie Fachzeitschriften und anspruchsvolleren Tageszeitungen erneut fördern. Doch gerade für die Tageszeitungen stellt sich das Problem, dass sie infolge der Abwanderung der Werbung und der Inserate ins Internet immer weniger Geld zur Verfügung haben. Die spanische Zeitung El Pais, die einst in der Wochenendbeilage Babelia über eine hervorragende Architekturseite verfügte, von der Spaniens Architekturszene ganz entschieden profitierte, bring heute kaum mehr Architekturbeiträge. Dünn gesät sind sie längst ebenso in Le Monde, im Corriere della Sera, in der Frankfurter Allgemeine Zeitung oder in der Süddeutschen Zeitung. Auch die NZZ hat nach der Finanzkrise abgebaut und bespricht heute fast nur noch Kulturbauten, publikumswirksame Trends und wichtige Ausstellungen. Aufgrund dieser Sparmassnahmen können immer weniger freie, unabhängige Kritiker von ihrer Arbeit leben, wodurch die fachliche Meinungsvielfalt abnimmt. Dafür erleichtert das Internet die Recherche und die Kontakte auf zuvor ungeahnte Weise.

 

Sie sind promovierter Kunsthistoriker. Haben Sie dadurch eine andere Perspektive auf das Gebaute als Kollegen, deren Hintergrund ein Studium oder eine vormalige Tätigkeit als Architekt ist?

Als Kunsthistoriker ist man weniger durch die Baupraxis beeinflusst. Technische Sonderleistungen oder raffinierte Details, welche die Architekten begeistern, aber für die Wahrnehmung eines Bauwerks sekundär sind, beeinflussen einen deshalb wohl nicht so stark. Man kann im Interesse des Gesamteindrucks auch einmal über etwas Misslungenes hinwegsehen und hat so vielleicht eher einen Gesamtblick. Dadurch wird das gebaute Resultat und seine Auswirkungen auf die Stadt wichtiger als der innerarchitektonische Diskurs. Wie wichtig das ist, zeigte jüngst meine Kritik an der Suburbanisierung des Zürcher Seeufers durch den Swiss Re-Neubau von Diener & Diener und den geplanten Abriss des Mythenschlosses. Er war am Tag, an dem er erschien, online der meistgelesene Artikel der NZZ.

 

Sie haben die Hochphase des Minimalismus kritisch begleitet. In dieser Phase gab es viele Konsens und eine internationale Strahlkraft. Wo steht die Schweizer Architektur heute?

Damals schien es, als ob der Schweizer Minimalismus mit seiner betonten, sich der postmodernen Verspieltheit entgegensetzenden Einfachheit eine bessere Architektur und damit auch eine bessere Welt hervorbringen könnte. Das faszinierte auch das internationale architekturinteressierte Publikum. Heute gibt es in der Architektur – wie in der bildenden Kunst schon wesentlich länger – viele Wahrheiten. Zum Glück, möchte man sagen, auch wenn das mitunter zu einem anything goes führen kann. Die einen nehmen sich die grossartige Architektur der Mailänder Nachkriegszeit zum Vorbild, wie Bauten an der Irisstrasse [Edelaar Mosayebi Inderbitzin Architekten], an der Weststrasse [Loeliger Strub] oder an der Europaallee in Zürich zeigen. Andere träumen von der baukünstlerischen Härte und dem Hässlichkeitskult Berlins, was zu kreativen Provokationen wie der Überbauung Zwicky Süd führen kann, sich aber auch in der jüngsten Berufung von Arno Brandlhuber zum Professor für Architektur und Entwurf an der ETH Zürich äussert. Das alles dürfte die Schweizer Architekturszene weiter beflügeln. Auch wenn man feststellen muss, dass die Architektur immer mehr Moden und Strömungen unterliegt. Innerhalb dieser finden sich neben vielen schlechten und mittelmässigen stets auch aussergewöhnlich gute Architekten, die allerdings immer mehr auf die profitorientierten Vorstellungen der Investoren und die Sparprogramme der Bauherrschaften Rücksicht nehmen müssen.

 

Was muss für Sie eine Architekturkritik leisten?

Gute Architekturkritik sollte zu allererst einmal zum Nachdenken, zur Zustimmung oder zum Widerspruch anregen und im Idealfall eine Diskussion auslösen. Sie sollte sich nicht nur an Fachleute richten, sondern auch für Laien verständlich sein. Gerade in der Schweiz, wo Architektur eine öffentliche Angelegenheit ist. Wir können hier ja gegen Projekte rekurrieren und werden immer wieder an der Urne gebeten, Bauprojekte oder massive Eingriffe ins Stadtbild zu bewilligen oder abzulehnen. Da in unseren Schulen zwar Zeichnen und Musik unterrichtet wird, Architektur und Design aber, die unser Leben und unseren Alltag ganz unmittelbar beeinflussen, kaum je Erwähnung finden, sollten die Architekturkritik und die Architekturberichterstattung diese Aufgabe bis zu einem gewissen Punkt übernehmen. Gleichzeitig sollte die Architekturkritik versuchen, den Horizont der oft sehr stark auf sich selbst konzentrierten Architekten theoretisch und geografisch zu erweitern. Leider kommen mittlerweile die Medien – Tageszeitungen genauso wie Radio und Fernsehen – dieser Aufgabe immer weniger nach.

 

Kritik ist immer auch subjektiv. Individuelle Erfahrungen und persönliche Präferenzen beeinflussen unser Sehen. Wie versuchen Sie dennoch, zu einem relativ objektiven Urteil zu kommen?

Seit Diderot und der Aufklärung war die Kritik immer subjektiv. Wir können uns auch in der Rolle des Kritikers nicht wirklich objektiv über etwas äussern, weil unsere Wahrnehmung ja immer auch von unseren Erfahrungen und Wünschen geprägt ist. Ich erinnere mich an einen Besuch des Castelgrande in Bellinzona mit Aurelio Galfetti. Meinen Einwand, die alten Bauten seien teilweise doch etwas sehr stark verändert worden, tat er ab mit der Bemerkung, dabei habe es sich um eine sporcheria, eine ärmliche, baufällige Sauerei gehandelt. Für mich aber hatten die nun zwar schön, aber sehr abstrakt überformten Altbauten einst etwas Romantisches verströmt. Hier muss man versuchen, Distanz zu gewinnen, um nicht allein aus dem Bauch heraus zu urteilen. Um nicht in die Falle der Sentimentalität oder eines Richtungsstreits zu tappen und zu einer möglichst objektiven Interpretation eines Entwurfs oder eines Gebäudes zu kommen, versuche ich stets, die Funktionalität und die Typologie, aber auch für die kulturellen, gesellschaftlichen, soziologischen und städtebaulichen Dimensionen eines Projekts zu analysieren. Dabei achte ich besonders darauf, ob ein Gebäude vom Entwurf her überzeugt, nachhaltige Qualitäten aufweist, einen positiven Einfluss auf die Benutzer oder auf den gebauten Kontext hat, den öffentlichen Raum und den sozialen Austausch stärkt, die Wahrnehmung des Orts verändert oder vertieft, innovative Aspekte hinsichtlich Konstruktion, Typologie, Material oder Detail aufweist, von der Kosten-Nutzen-Rechnung her überzeugt oder Ideen unserer Zeit in eine prägnante architektonische Form überführt.

 

Die NZZ galt als wichtigste liberale Stimme mit einer Bedeutung für den gesamten deutschen Sprachraum. Häufig wird der Zeitung in den letzten Monaten attestiert, sie sei ins konservative Lager abgewandert. Gab es diese Verschiebung und hatte sie Einfluss auf Ihre Arbeit als Architekturkritiker?

Die NZZ war immer bürgerlich. Das hat sich aber nicht auf die Meinungsfreiheit im Feuilleton ausgewirkt. Heute gibt es hier allerdings mehr konservative Hintergrundbeiträge als früher, die sich nicht mit meiner Denkweise decken. Dennoch konnte ich immer frei meine Meinung äussern – sogar in den für manche NZZ-Kollegen unbequemen Beiträgen über den Neubau des Landesmuseums oder das verunglückte Swiss Re-Gebäude.

 

Sie setzen sich viel mit denkmalpflegerischen Fragen auseinander.

Das Interesse am Bestand ist zentral für meine Arbeit. Gerade in der Schweiz, wo seit einigen Jahren im Zeichen der Verdichtung, die meist vor allem für die Investoren, weniger aber für die Mieter interessant ist, ein Altbau nach dem anderen abgerissen und damit das Gewebe der gewachsenen Stadt immer mehr zum Flickwerk wird, brauchen die bestehenden Bauten Leute, die sich für sie einsetzen. Denn anders als etwa in Frankreich oder Italien ist bei uns die Masse an Altbauten so klein, dass jede Zerstörung einen wirklichen Verlust bedeutet und unsere Städte immer mehr zu geschichtslosen Aneinanderreihungen von uninteressanten Beton-Glas-Kisten verkommen. Für mich als Kunst- und Architekturhistoriker ist Bauen ohne historisches Gedächtnis nicht möglich. Das heisst nun aber nicht, dass keine Neubauten mehr im historischen Kontext erlaubt werden sollten. Sie sollten aber von höherer Qualität sein als das abzubrechende Objekt. Und vor allem sollte man die Stadt an den Rändern neu denken, bauen und verdichten. Aber es läuft genau umgekehrt. Im Zürcher Seefeld beispielsweise wird viel kompakter gebaut als in den neuen Schlafstädten in Zürich Nord. Dabei könnte dort nur eine hohe Dichte öffentliches Leben hervorbringen. Die Stadtplaner und Politiker meinen aber, das liesse sich über Parkanlagen, die meist nicht mehr sind als eine Wiese mit einigen mickrigen Bäumen, erreichen.

 

Wie hat sich im Laufe Ihrer journalistischen Karriere Ihre Sicht auf die Architektur verändert? Ändern sich persönliche Vorlieben oder bleiben sie konstant?

Früher interessierten mich die neuen Strömungen. In den 1980er-Jahren wurde so viel experimentiert, nachdem in den 1970er-Jahren vor allem theoretisiert worden war. Mit der Strada Novissima an der ersten Architekturbiennale 1980 in Venedig wurde die Postmoderne zu einem dominierenden Trend, auf den Architekten bald schon mit Minimalismus und Dekonstruktivismus antworteten. Für mich als Liebhaber von Antike und Klassizismus war das spannend. Heute sind die Einfamilienhaushalden und Wohnblockansammlungen eine formale Kakophonie, weil viele, meist weniger begabte Architekten mit möglichst exzentrischen Bauten ihre Duftmarken setzen wollen. Deshalb interessieren mich heute die städtebaulichen Zusammenhänge mehr als die Einzelbauten, auch wenn mich Arbeiten wie die Elbphilharmonie von Herzog & de Meuron oder Jean Nouvels Louvre Abu Dhabi noch immer faszinieren.

 

Sie werden weiterhin als freier Mitarbeiter über Architektur in der NZZ schreiben. Wird die Redaktorenstelle als Architekturkritiker bei der NZZ weitergeführt? Werden Sie in Zukunft auch wieder Texte in Zeitschriften verfassen?

Es war so vereinbart bei meinem Abschied, dass ich weiter für die NZZ schreiben soll. Ich denke mir, ein Beitrag pro Monat in der NZZ ist realistisch. Daneben werde ich wohl auch für Zeitschriften schreiben, sofern diese an meiner Mitarbeit interessiert sind. In der NZZ werde ich über architektonische Entwicklungen, aber auch interessante Neubauten schreiben – und über jedes Thema, das mir gerade wichtig scheint, sofern es denn bei meiner Nachfolgerin Antje Stahl auf Interesse stösst. Antje Stahl wird die Architekturkritik und die Designberichterstattung im Feuilleton der NZZ weiterführen, und dies ganz unabhängig von dem, wie ich das gemacht habe. Ein Wechsel soll ja auch frischen Wind bringen.

 

> Lesen Sie in archithese 2.2009 Sakrale Räume Roman Hollensteins Kritik zu Manuel Herz' Synagoge in Mainz.

> Roman Hollenstein wird auch in der Swiss Performance 2018 der archithese schreiben: Über das Zürcher Wohnhaus Ballet Mechanique, das ebenfalls aus der Feder von Manuel Herz stammt. In derselben Ausgabe diskutieren wir auch den Swiss Re-Ersatzneubau in Zürich.

> In Swiss Performance 2017 der archithese lesen Sie eine Kritik zur Erweiterung des Landesmuseums in Zürich.

> Eine Kritik zur Kritik in der NZZ zur Renovation der Salle Labrouste der Pariser Nationalbibliothek finden Sie hier.

Unsere Empfehlung

archithese 1.2017

Swiss Performance 2017


Unsere Empfehlung

Unsere Empfehlung