30 Jahre Kirchner Museum Davos
Hubertus Adam und Nele Rickmann tauschen sich nach der Pressekonferenz anlässlich der Jubiläumsausstellung Gigon/Guyer. Kirchner Museum revisited von Annette Gigon und Mike Guyer in Davos über Ort, Architektur und nachhaltiges Potenzial aus.
Zürich, 12. Dezember 2022
Hubertus Adam: Liebe Nele, am Freitag, den 25. November, waren wir gemeinsam bei der Pressekonferenz anlässlich der neuen Ausstellung im Kirchner Museum Davos. Zum 30-jährigen Jubiläum des Museumsgebäudes hat die neue Direktorin Katharina Beisiegel Annette Gigon und Mike Guyer eingeladen, die Ausstellungssäle zu bespielen.
Auf der Weiterfahrt von Zürich nach Hannover habe ich mir überlegt, wann ich zum ersten Mal in Davos gewesen bin. Es muss 1997 gewesen sein. Ich lebte damals in Berlin und arbeitete für die Bauwelt an einem Heft zum Thema Sport in der Schweiz. Vorgestellt wurden darin drei deutsch-schweizer Positionen: Peter Zumthors Therme in Vals – die zugegebenermassen mit Sport nicht viel zu tun hat –, Michael Alders Stadion Rankhof in Basel und das Eisbahnhaus von Gigon/Guyer in Davos. Die Reise nach Davos gab mir die Möglichkeit, endlich auch das Kirchner Museum zu besuchen. Annette und Mike kannte ich schon seit einigen Jahren, weil ich 1991 begonnen hatte, für die NZZ über Architektur zu schreiben, und daher von Heidelberg, wo ich seinerzeit noch studierte, immer wieder in die Schweiz fuhr. Doch bevor ich von meinen damaligen Eindrücken berichte, interessiert mich, wie Du das Museum wahrgenommen hast. Wie ich vor 25 Jahren warst Du letzten Freitag zum ersten Mal in Davos. Mike sagte während des Rundgangs, er wünsche sich insbesondere, dass junge Menschen diese Ausstellung sähen. Du hast im Frühjahr Dein Studium abgeschlossen – Du bist also in diesem Sinne eine idealtypische Besucherin.
Nele Rickmann: Das Kirchner Museum macht für seine Entstehungszeit 1989–1992 einen sehr modernen Eindruck. Es sieht eben gar nicht so anders aus als ein Chipperfield der letzten Jahre, nur radikaler. Ich denke, und das denke auch nicht nur ich, dass das Museum ein Pilotprojekt für den modernen Museumsbau war. Das Gebäude steht zukunftsweisend unterhalb der Promenade von Davos und man kann sich vorstellen, dass das Projekt damals revolutionär eingeschlagen ist. Die Bewohnerschaft musste sich wohl auch mit der Zeit erst daran gewöhnen, wie wir im Pressegespräch erfahren haben. Heute ist man stolz auf das Gebäude und auf die Wirkung, die von der modernen Architektur der Gemeinde ausgeht.
Davos ist auf einer Höhe von mehr als 1500 Metern in diesen Tagen schon mit Schnee bedeckt und das Museum steht wie eine vereiste Kubatur im regionalen Kontext der Schweiz. Die Materialien Beton, Glas und Holz haben Gigon/Guyer gekonnt zusammengefügt; das Thema der Dämmung haben sie neu interpretiert und die Dämmplatten hinter den Glaselementen der Fassade sichtbar gemacht. Das war damals ein absolut neues Thema.
Hubertus Adam: In der Tat. Als Annette noch bei Herzog & de Meuron arbeitete, versuchte sie Jacques zu überzeugen, beim Entwurf für das Sandoz-Verwaltungsgebäude 430 (1987) Foamglas hinter der Glasfassade sichtbar zu lassen – damals ohne Erfolg. Auch beim kurz zuvor errichteten Ricola-Lagerhaus ist die Dämmung hinter den Eternitplatten verborgen. Schon beim ersten gemeinsamen Projekt von Annette und Mike, das damals in Zusammenarbeit mit Christian Gautschi, Ruedi Moser und Andreas Galli entstand, war dann eine Profilitfassade mit durchscheinender Dämmung vorgesehen. Der Bau auf dem Schöllerareal in Zürich (1989) ist nicht realisiert worden, wurde dann aber in dieser Hinsicht wegweisend für das Kirchner-Museum und die folgenden Museumsbauten von Gigon/Guyer. Auch Herzog & de Meuron interessierten sich in der Folge für die hinter der Fassade sichtbaren «unedlen» Materialien. Das Thema taucht bei einem weiteren, ab 1988 in Planung befindlichen Laborgebäude für Sandoz auf – hier könnte Annette zufolge Gerold Wiederin eine Vermittlungsrolle gespielt haben, der dieses Projekt bei H&deM betreute und Gigon/Guyer in der Endphase des Wettbewerbs unterstützt hatte. Umgesetzt wurde es dann schliesslich im Sportzentrum Pfaffenholz in Saint-Louis (1993), das wir uns vor einigen Wochen gemeinsam angesehen haben.
Nele Rickmann: Nachhaltigkeit war das Hauptthema einerseits der Pressekonferenz mit Blick auf den Museumsbau und andererseits der Ausstellung mit Blick auf das Œuvre von Gigon/Guyer. Nachhaltigkeit bezieht sich dabei auf die verwendeten Materialien wie auch die Langlebigkeit der Architektur. Ein zeitloses Design bleibt eben bestehen – man kann sich nicht vorstellen, dass das Museum mal aus der Zeit fallen wird, oder Hubertus? Wie hast du die Architektur und die dahinterliegenden Intentionen damals wahrgenommen und wie siehst du sie heute?
Hubertus Adam: In Deutschland waren die 1980er-Jahre das grosse Jahrzehnt des Museumsbaus. Spektakuläre Häuser wie das Wallraf-Richartz-Museum / Museum Ludwig in Köln, das Museum Abteiberg von Hans Hollein in Mönchengladbach oder die Neue Staatsgalerie in Stuttgart von James Stirling entstanden. Ich war damals überhaupt kein Freund der Postmoderne, ich fand die Staatsgalerie mit ihrer monumentalen Formensprache fast schon bedrohlich. Das sehe ich heute komplett anders – ich kann mich für die Ironie von Stirling wirklich begeistern. Wie auch immer, als ich nach Davos kam, war das Kirchner Museum wirklich eine Offenbarung. Kein Spektakel, sondern gut proportionierte Räume für die Kunst. Mit einfachen, unprätentiösen Materialien. Dieses Thema war ganz wichtig für den damaligen Schweizer Architekturdiskurs – Annette hat uns ja beim Mittagessen davon erzählt, dass der Besuch des Blauen Hauses in Oberwil für sie der Auslöser war, bei Herzog & de Meuron zu arbeiten. Es war auch die Zeit, als das Ricola-Lagerhaus in Laufen und das Fotostudio in Weil am Rhein entstanden – zwei Projekte, bei denen mit Eternit und Dachpappe ebenfalls alltägliche Baumaterialien zum Einsatz kamen.
Der Bezug zum Licht in Davos und auch die Reverenz an die Flachdachbauten von Rudolf Gaberel scheinen mir ebenfalls für die Wirkung des Kirchner Museums wichtig zu sein. Gigon/Guyer ist der Kunstgriff gelungen, dass Ihr Museum vom Kontext inspiriert ist – und doch mit seiner räumlichen Organisation zu einer Allgemeinheit gelangt, die für den Museumsbau der folgenden Jahrzehnte stilbildend wurde. Das Kunsthaus in Bregenz von Peter Zumthor oder die Tate Modern von Herzog & de Meuron in London: Ohne das Davoser Vorbild wären diese Museen wohl nicht denkbar. Wenn ich heute nach Davos komme, bin ich gleichermassen fasziniert wie vor 25 Jahren. Dieses Museum ist zeitlos.
Eine wichtige Inspirationsquelle für Annette war der Vortrag von Rémy Zaugg «Das Kunstmuseum, das ich mir erträume» im Basler Kunstmuseum. Es geht im Kern um das Postulat, der Kunst im Museum ihre Autonomie zurückzugeben. Wenn Du diesen mehr als dreissig Jahre alten Text heute liest, was kommt Dir in den Sinn, Nele?
Nele Rickmann: Ich habe den Text gerade zum ersten Mal gelesen und bin begeistert. Gleichzeitig frage ich mich, warum ich ihn jetzt erst lese und nicht schon im Studium davon erfahren habe. Das ist ein toller Text, der vieles erklärt, was man vielleicht entwirft, aber gar nicht genau weiss, warum man es so macht, wie man es macht. Vor allem geht es Rémy Zaugg um die Wahrnehmung von Mensch und Objekt, von Mensch und Raum, von der gegenseitigen Wechselwirkung von Werk und Ort. Er behandelt darin die Themen rund um architektonische Elemente wie Boden, Wand und Decke, Raumproportionen, Licht, Materialität und Erschliessung und bezieht diese Dinge immer wieder auf die Wahrnehmung von Kunstwerken und ihrer Beziehung zum Menschen. Ich bin begeistert! Das ist wirklich ein Manifest der modernen Architektur, und dabei so schön poetisch und sinnlich geschrieben: «Der Gegenstand meines Träumens ist der Ort, der vom Werk spricht […]. Diesen Ort gibt es heute nicht. Deshalb kann ich nur von ihm träumen.» Schon in den ersten Sätzen schreibt Zaugg von dem, was ihm im Kern wichtig ist, nämlich von einer Architektur, nach der er sich als Künstler sehnt und die sich zurücknimmt, um das Werk sowie die Beziehungen zum Menschen wirken zu lassen. Ich finde eine jede Architektin und ein jeder Architekt sollte dieses Traktat gelesen haben – und wie gesagt, ich frage mich, warum ich das jetzt erst lese…
Zurück zum Bau von Gigon/Guyer: Jetzt, wo ich Zauggs Manifest gelesen habe, erkenne ich viele im Text genannte architektonische Eigenschaften im Kirchner Museum wieder. Um einige wichtige zu nennen: Die Ausstellungsräume werden nicht mittig erschlossen, sondern nahe einer oder zwei Ecken des Raumes; sie sind nicht quadratisch, sondern rechteckig, um eine zentrale Mitte zu vermeiden; ein Erschliessungsraum, der eine andere materielle Sprache spricht als die Ausstellungsräume, fasst die einzelnen Kuben zu einer Einheit zusammen; und Materialität sowie Farbe sind zurückhaltend und neutral, um die Wirkung der Werke nicht zu kontrastieren. Vor allem das Lichtproblem, vor dem viele Museen stehen, haben Gigon/Guyer mit einer verglasten doppelten Decke gelöst, die sowohl diffus natürliches wie auch künstliches Licht in den Raum lässt, ohne dabei starke Schatten zu werfen – oder wie Zaugg sagt, «das Licht ist das, was die Dinge sehen lässt, ohne selbst sichtbar zu sein.»
Nicht nur der Text ist ein Meisterwerk, sondern auch das Kirchner Museum von Gigon/Guyer, das als Verkörperung der Wörter Zauggs verstanden werden kann. Hubertus, was denkst Du von dieser Symbiose von Text und Ort? Bist du eigentlich als ehemaliger Kurator zufrieden mit der neuen Ausstellungsbespielung durch Anette und Mike?
Hubertus Adam: Ich freue mich, dass Dir dieser grossartige Text auch so gut gefällt. Annette hat natürlich recht, wenn sie betont, dass bestimmte Gedanken auch schon im Museumsdiskurs des früheren 20. Jahrhunderts thematisiert wurden. Aber Zaugg ist es wirklich gelungen, all diese Gedanken zu verdichten. Interessanterweise sind 1992 gleich drei bemerkenswerte Ausstellungsbauten von deutsch-schweizer Architekten eingeweiht worden: La Congiunta von Peter Märkli in Giornico im Leventinatal, die Sammlung Goetz von Herzog & de Meuron und eben das Kirchner Museum in Davos. Alle drei Häuser setzen sich – auf je unterschiedliche Weise – von der Formenopulenz der Postmoderne ebenso ab wie von der Idee des bürgerlichen Kunsttempels klassischer Prägung. Bei allen dreien geht es auch um die Rückkehr zu einfachen Materialien. Wir müssten jetzt eigentlich nach Giornico und München weiterfahren, um die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu diskutieren… Tatsache aber ist, dass Gigon/Guyer die Postulate von Zaugg im Kirchner Museum paradigmatisch umgesetzt haben, deutlicher als in manchen ihrer späteren Museumsbauten.
Wenige Tage nach unserem Besuch hatte ich die Gelegenheit, die Erweiterung des Josef Albers Museum in Bottrop zu besuchen, gemeinsam mit Lynn Kunze, die darüber für die kommende Swiss Performance (archithese 1.2023) schreibt. Es ist das mittlerweile 14. realisierte Museumsprojekt von Gigon/Guyer. Die Rahmenbedingungen erforderten ein kompaktes Volumen mit acht Ausstellungsräumen, die von Zaugg postulierte und im Kirchner Museum mustergültig umgesetzte «Streuung der Säle» liess sich hier nicht umsetzen. Dennoch finden sich auch in Bottrop viele mit Davos vergleichbare Elemente – aber ich will hier nicht abschweifen und dem Text im kommenden Heft vorgreifen. Nur soviel: Der Gebäudebestand wird auf intelligente und subtil kontrastierende Weise fortgeschrieben.
Zurück zu Deiner zweiten Frage, der nach der Kuration von Gigon/Guyer. Mir gefällt die Ausstellung überaus gut. Der hinterste Saal ist komplett leergeräumt, er wird von Tänzerinnen genutzt, die ihn nach einer von Tino Sehgal vorgegebenen Choreografie ausloten. Ein weiterer Saal widmet sich dem Museum und seiner Entstehung. Hier finden sich die originalen Präsentationszeichnungen des Wettbewerbs von 1989, aber auch diverse Modelle, darunter ein Raummodell im Massstab 1:10 für Lichtstudien. In einem weiteren Saal sind als «Museum im Museum» vier hölzerne Kuben eingebaut, welche die Ausstellungssäle im Massstab 1:3,3 widerspiegeln. In zwei der Boxen sind Filme von Severin Kuhn zu sehen – der eine widmet sich den für das Publikum unsichtbaren Räumen des Kirchner Museums wie Lager etc., der andere ist eine Kompilation von Filmsequenzen der übrigen 13 Museumsbauten von Gigon/Guyer. Darüber hinaus werden Modelle der Bauten des Architekturbüros präsentiert und schliesslich die Wunderkammer mit diversen Baustoffen – inklusive Fussnoten zu deren CO2-Abdruck. Der erste Raum hinter dem Eingang ist ganz dem Werk von Ernst Ludwig Kirchner gewidmet. Gigon/Guyer haben hier einige Motive mit architektonischen Sujets ausgewählt – Kirchner war ja bekanntlich ausgebildeter Architekt. Alles in allem zeigt die Ausstellung die extreme Flexibilität der Räume, die für alle Genres von Präsentationen funktionieren.
> In der archithese Swiss Performance 23 schreibt Lynn Kunze über das neuste Bauwerk von Gigon/Guyer: den Erweiterungsbau des Josef Albers Museum in Bottrop.
Die Swiss Performance erscheint am 1. März 2023.