Die Wellen schlugen hoch, als Marc Jongen, Mitarbeiter von Peter Sloterdijk, behauptete: «Die Konservativen sind die neue Avantgarde.» Nicht nur, weil der Philosoph sich in der rechtskonservativen bundesdeutschen Partei AfD engagiert, sondern vor allem, weil er damit das Gegensatzpaar von progressiv und konservativ grundlegend infrage stellt.
Dabei ist in der Architektur diese Aufhebung oder Umkehrung längst nicht mehr neu: Seit dem Historismus und allerspätestens seit der Postmoderne wurde deutlich, dass eine konservative Avantgarde die Grenze der modernen Architektur gegenüber der eigenen Tradition permeabel gemacht hat. Doch gerieten diese Positionen wieder auf ein Nebengleis und verloren neben den Minimalisten und den Swiss Shapes an Strahlkraft.
Nun tauchen sie an diversen Bauten und in den Entwürfen vieler Hochschulstudios wieder auf: Zitate aus dem Fundus der Baugeschichte. Ob bossierte Fassadenelemente oder mit Backstein gefüllte Betonrahmen – der Bruch zu den meist glatten, bündigen Fassaden und abgewinkelten kubischen Formen, die noch bis in die 2000er-Jahre die helvetischen Bauten prägten, ist offensichtlich. Ebenso augenfällig ist das differenziertere Reagieren der Bauten auf den jeweiligen Ort.
Im Gegensatz zu den Positionen der Postmoderne scheint das Schöpfen aus der Geschichte zumindest in der Schweiz heute jedoch ohne einen (hitzigen) Diskurs stattzufinden. Höchste Zeit also, das Phänomen zu diskutieren und nach den Motivationen zu fragen: Woher kommt diese Wendung hin zu einer kontextuellen, mit den traditionellen Formenkanons spielenden Architektur? Ist sie Indikator dafür, dass wir im westlichen Kulturkreis generell ein polares Denken abgelegt haben und zu einem Kontinuitätsverständnis gelangt sind? Oder sollten wir uns sorgen, dass die referenzielle Architektur die Disziplin in Beliebigkeit abgleiten lässt, weil sie womöglich lediglich Symptom eines aufkeimenden Eklektizismus ist? Ziel des Heftes ist jedoch nicht Verwirrung oder Auflösung der Begriffe, sondern eine feinere Debatte und ein Bewusstsein für die Parallelität und Gleichzeitigkeit der Dinge zu erreichen. Um aufzuzeigen, dass der Umgang mit der eigenen Tradition und der Grad des Bedürfnisses, innovativ zu sein, sich in verschiedenen Ländern signifikant unterscheiden kann, blickt Frank R. Werner auf die Entwicklungen in Deutschland und Harald R. Stühlinger auf die in Österreich zurück. Es wird deutlich: Neben den Einzelpositionen hat die Geschichte und ihre kollektive Interpretation einen wesentlichen Einfluss auf die architektonische Haltung.
Die Redaktion ist überzeugt: Die aktuellen Positionen von etablierten wie auch jungen Büros immer wieder neu zu untersuchen lohnt, denn es werden leise, aber entscheidende Unterschiede zu den vergangenen Diskursen sichtbar. Es geht aktuell weniger um das Kopieren von Bildern als vielmehr um Übersetzungsleistungen – um Methoden der Adaption also. Diese können, wie Ákos Moravánszky in seinem Beitrag ausführt, aus der Auseinandersetzung mit dem Kontext entstehen oder aber auch aus einem begreifenden Transformieren wachsen.
Architektur liesse sich, so Aita Flury, auch als Sammlung von Elementen und architektonischen Mitteln verstehen, die über die Epochen immer wieder leicht variiert vorkommen. Sie baue auf einer Kulturgeschichte auf und forme doch aktiv neu. Dass Architektur um einer allgemeinen Verständlichkeit willen auf bestehendes architektonisches Vokabular zugreifen muss, bekräftigt auch Peter Märkli. Es geht also nicht um die Reproduktion von Bildern, sondern um den kreativen Umgang mit Referenzen.
Der Diskurs um den Wert eines «coolen Konservatismus» in der Architektur ist mit archithese Tradition | Adaption | Innovation also eröffnet.