Wie soll man heute über Architektur schreiben? Und wie kann man sie bildlich darstellen, um den Diskurs zu befeuern? Insbesondere Rolle und Potenzial der Architekturfotografie hinterfragen wir in der archithese-Redaktion kontinuierlich. Welche Geschichten kann sie spinnen? Können Abbildungen neue Bezüge aufzeigen, von Bedürfnissen erzählen oder Defizite offenlegen? Und ganz generell: Wo kann oder muss sich eine schriftenreihe zur Architektur mit Theoriefokus im Internetzeitalter mit seiner endlosen Bilderflut visuell verorten?
Architektur ist ein Zeichensystem – meist diskret, mal offenkundig, mitunter gar plakativ. Sie erfüllt Funktionen und definiert (Stadt-) Räume. Sie drückt Ambitionen von Bauherren und Architekten aus. Zugleich kann sie als Spiegel gesellschaftlicher Begehren oder deren Negierung gelesen werden. Architektur ist dabei selten eindeutig. Sie löst verschiedenste Emotionen und Reaktionen aus – oder lässt uns gleichgültig zurück. Egal, wie minimal ein Bauwerk gestaltet oder wie konsequent ein Konzept verfolgt wurde – vielfältige Lesarten sind immer möglich und derzeit von vielen Gestaltern zunehmend wieder explizit gewünscht. Je nach Betrachter und Blickwinkel ändern sich die Wahrnehmungen und Bewertungen.
Welchen Sinn macht es, wenn Blogs und mitunter gar die Printmedien (redigierte) Pressemitteilungen weiterverbreiten, die man selbst bereits per E-Mail erhalten hat? Die schriftenreihe der archithese möchte nicht nur permanent neue Inhalte generieren, sondern auch kritischer sein als andere Architekturzeitschriften. Wir arbeiten selten mehrmals mit denselben Autoren zusammen, sondern wenden uns für die Themenhefte immer wieder an neue Experten in der Erwartung, dass ihre Essays Resultat umfassender Recherchen und Evaluationen sind. Doch reicht profundes Wissen und Objektivität aus, um kritisch zu sein?
Kommen wir zurück zum Bilddiskurs: Von Architekturbüros bestellte und kuratierte Fotos haben einen genormten Blick auf die gebaute Umwelt etabliert. Architekturfotografie ist derzeit in den seltensten Fällen Kunst, sondern allenthalben ein solides Handwerk. Die als Auftragsarbeiten produzierten Bildsätze werden zudem in dutzenden Onlinemedien parallel aufgeschaltet und von vielen Zeitschriftenredaktionen weitere Male auf Papier gedruckt.
Ein kritischer Architekturdiskurs entsteht jedoch erst, wenn bewusst (und klar deklariert) subjektive Blickwinkel eingenommen werden. Nur so wird die Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten sichtbar – sei dies auf der Bild- oder auf der Textebene. Es bedarf einer neuen Kultur des Sich-Exponierens. Die Swiss Performance 2020 versucht auch in diesem Jahr mehr als ein kritisches «Jahrbuch der Schweizer Architektur» zu sein. Sie will erneut auch einen alternativen Beitrag zur Rolle der Architekturfotografie leisten. Für das Heft hat archithese daher ein zweites Mal mit Pro Helvetia zusammengespannt. Die Kulturstiftung unterstütz kontinuierlich junge Fotokünstler im Rahmen der Nachwuchsförderung. Anhand eingereichter Portfolios wurden acht vielversprechende junge Fotografierende ausgewählt. Ausgestattet mit einer Carte blanche haben die Absolventinnen von ecal, head und zhdk Ideen entwickelt, wie Architekturfotografie einen eigenständigen Beitrag in der Debatte um unsere gebaute Umwelt leisten kann. Sie zeigen individuelle Perspektiven, zoomen heran und fokussieren – auf charismatische, mitunter aber auch auf scheinbar beiläufige Details. Sie dokumentieren, was sie vor Ort bewegt hat. Wie haben die Materialien und Lichtstimmungen die Betrachtenden sinnlich angesprochen? Das zu transportieren gelang den Fotografierenden so gut, dass man mitunter gar meint, mittels der Bilder Töne, Temperaturen und Gerüche empfinden zu können. Die Wahrnehmung von Architektur – das zeigen unsere Fotokünstler – baut sich aus einer Summe fragmentarischer Details, deren Wirkungen und Stimmungen auf. Damit wird Architektur auf ein menschliches Mass reduziert. Die Fotos erfassen – so wie die Augen – meist nur Ausschnitte. Der Blick muss wandern und die Teile zu einem individuellen Ganzen fügen. Es zeigt sich ein spannendes Paradox: Obwohl die im Heft versammelten Fotografien sehr subjektiv sind, erscheinen sie – fragmentarisch abstrahiert – zugleich deutungsoffen und lassen damit den Betrachtenden üppige Interpretationsspielräume. Wir sind gespannt, was Ihre Lesungen sein werden.
Jørg Himmelreich
Chefredaktor archithese