Wie ein roter Faden zog sich das Motiv der Ruine durch viele Installationen der diesjährigen Kunstbiennale von Venedig : Mark Bradford liess den amerikanischen Pavillon in Kies und Schutt versinken, Gal Weinstein setzte den israelischen Pavillon dem Schimmel aus und Kirstine Roepstorff erlaubte Pflanzen, durch den dänischen Ausstellungsbau zu wuchern. Geoffrey Farmer riss gar grosse Teile des kanadischen Pavillons ab und setzte mit unberechenbar spritzenden Fontänen die Gebäudereste und die Besucher unter Wasser.
Warum entdecken Kreative ( einmal mehr ) das narrative Potenzial der architektonischen Ruine ? Es geht dabei nicht ( nur ) um emotionale Effekthascherei im Sinne von Schauder und Gefühlen der Erhabenheit, sondern vielmehr um das Moment der Mehrdeutigkeit: Ruinen erzählen zugleich von Kontinuität und Instabilität, Stillstand und Aufbruch, von Krise und Hoffnung, Endgültigkeit und Offenheit.
Ruinen sind alles andere als wertfreier, neutraler Abfall der menschlichen Kultur. Als Kinder waren Rohbauruinen und leere Fabriken unsere liebsten Spielplätze. An ihnen entzündete sich die Fantasie. Dort durften wir Hand anlegen, konnten zerschlagen oder neu formen. Sie waren Räume jenseits von Kontrolle und Normierung. Mit dem Erwachsenwerden hingegen wurden uns andere Wertungen beigebracht: Als Indizien für Instabilität, Verfall und Krise gedeutet, wurden wir konditioniert sie zu meiden, zu entfernen, zu verstecken oder zu tabuisieren.
Manche Ruinen erzählen mit fortschreitender Auflösung immer weniger über den gesellschaftlichen Kontext, aus dem sie hervorgegangen sind. Andere Bauwerke werden hingegen erst im Prozess ihrer Auflösung mit neuen ( Be-) Deutungen aufgeladen. Viele von ihnen finden keine Ruhe und werden kontinuierlich kuratiert : Konservierung, idealisierende Rekonstruktion, das Schaffen künstlicher Ruinen, Mystifizierung, Dramatisierung ihrer Zerstörung oder gar das Beseitigen, Überformen oder Verstecken können allesamt als kulturelle oder gar politische Akte verstanden werden.
Die vorliegende Ausgabe der archithese klammert die emotionale Ebene der Ruine bewusst ( und annähernd vollständig ) aus. Sie handelt weder von Archäologie oder Denkmalpflege noch ist sie ruin porn. Stattdessen fragen wir nach den der Ruine innewohnenden produktiven Momenten und Qualitäten. Das Heft kreist damit um Begriffe wie Fragment, Offenheit, Adaptierbarkeit und Mehrfachcodierung und wagt den Versuch, diese als produktive Agenten für die Architektur zu extrahieren. archithese untersucht diese unterschiedlichen Facetten der Ruine mit der Intention, sie zu einem neuen Theoriegebäude zusammenzusetzen. Und wir fragen nach dessen Anwendbarkeit in der Praxis, indem wir Arbeiten wichtiger zeitgenössischer Protagonisten zeigen, die sich von der Beschäftigung mit Ruinen inspirieren lassen.
Einmal mehr spinnen wir das Thema des Hefts zudem mit einer archithese kontext-Veranstaltung weiter: Am 7. Dezember 2017 spricht Arno Brandlhuber auf dem Vitra Campus in Weil am Rhein über die Rolle von Ruinen für seine Arbeit. Sie sind herzlich eingeladen!
Die Redaktion wünscht schöne Feiertage und viel Zeit zum Lesen und Reflektieren am Jahresende.