Mehr Urbanität, Gemeinschaft und Begegnung – derzeit gibt es im Architekturdiskurs einen Imperativ, so viel Miteinander wie möglich zu initiieren. Beim Verdichten von Städten und neuen Quartieren bis hin zu einzelnen Bauwerken, in Büros und Wohnungen wird stets nach Lebendigkeit, Gemeinsamkeit und Interaktion gefragt.
Das ist wohl in erster Linie als Reaktion auf die negativen Folgen der modernen Funktionstrennung, auf fundamentale Veränderungen innerhalb der Gesellschaft oder auch das Schwinden tradierter Familienstrukturen zu verstehen, denn nach der Grossfamilie löst sich nun auch das Konzept der Kernfamilie sukzessive auf. Entsprechend wächst die Zahl der Single-Haushalte. Auch die Digitalisierung hat daran ihren Anteil: Immer häufiger kaufen wir Waren im Internet statt in Läden, sind in den Sozialen Medien präsent statt Freunde zu treffen, trainieren alleine im Fitnesscenter statt auf dem Sportplatz Teamsport zu machen.
Doch die damit einhergehenden sozialen Entkoppelungs- und Beschleunigungstendenzen gefallen nicht allen. Analysiert man neu erscheinende Bücher, Trends in Lifestyle-Blogs oder das Freizeitverhalten der Menschen, scheint genau das Gegenteil gefragt zu sein: Rückzug, die Möglichkeit zur Entschleunigung, allein und man selbst sein zu dürfen, Zeit zum Nachdenken oder Nichtstun zu haben. Derzeit schwillt die Zahl an Coffee Table Books und Blogs über einsame Hütten in unberührter Natur kontinuierlich an und hat sogar einen eigenen Namen erhalten: #cabinporn. Damit in Zusammenhang steht die neue Lust daran, outdoor zu sein. Die Sehnsucht nach einsamen Seen und Stränden zieht die Menschen in immer entlegenere Gegenden. Der Tourismus wächst global rasant an und greift mittlerweile bis in die Antarktis aus. Damit verbunden ist oft eine Suche nach Sinn – Pilgerrouten und Yoga Retreats boomen.
War im 20. Jahrhundert die häufigste Sehnsucht junger Menschen ein Leben in den aufregenden Metropolen, so scheint der Wunsch nach Ruhe, Abgeschiedenheit und Frieden der grosse Traum des 21. Jahrhunderts zu werden. Man mag relativierend einwenden, dass Sehnsüchte nach einer «anderen Welt» die menschliche Kultur seit jeher begleiten. Früher haben sich die Menschen nach grundlegenden Dingen wie einem Dach über dem Kopf, Essen, Frieden oder medizinischer Versorgung gesehnt, heute wünschen sie sich mehr Zeit und einsame Rückzugsorte.
Die Hälfte aller Menschen lebt mittlerweile in Städten. Bis 2050 sollen es zwei Drittel der Weltbevölkerung sein. Das heisst, dass dann sechs Milliarden Menschen in Ballungsräumen zu Hause sein werden. Mitunter bringt diese Entwicklung aggressive Formen der Ab- und Gegenwehr hervor. Dem «Dichtestress» entspringen beispielsweise Ressentiments gegen Zuwanderung oder Bautypologien wie das Hochhaus. Auch wird diese Debatte von verschiedenen Formen der Fortschritts- und Technikfeindlichkeit begleitet. Der aktuelle Widerstand gegen das 5G-Mobilnetz nährt sich vor diesem Hintergrund vermutlich nicht nur aus der Angst vor schädlicher Strahlung, sondern ist vor allem eine verzögerte Abwehrreaktion gegen eine als stressig empfundene permanente Erreichbarkeit und die Allgegenwart des Digitalen.
Immer häufiger keimt – wen wundert es – deshalb der Wunsch auf, aus dem Hamsterrad auszubrechen; zeitweise oder für immer. Doch damit verstärken sich bestehende ökologische und logistische Probleme: Mehr Mobilität führt zu noch mehr Infrastruktur und Energieverbrauch; noch mehr Zweitwohnungen in Agrarwirtschafts- und Naturräumen verursachen noch mehr Zersiedelung.
Mit dieser Ausgabe der archithese versucht die Redaktion, die Bedürfnisse nach Rückzug ernst zu nehmen und ihnen im Architekturdiskurs wieder Gewicht zu verschaffen. Die Frage, die beantwortet werden muss, ist aber zugleich, wo – und dies sollte, wenn immer möglich, in den (zu verdichtenden) Städten und Agglomerationen passieren – zeitgemässe (neue) Rückzugsräume implementiert werden müssten und wie diese zu gestalten sind.
Rückzug – das wird in vielen Essays in diesem Heft ebenfalls deutlich – ist nicht gleichbedeutend mit «sich verweigern» und «ausklinken», sondern häufig vielmehr mit sich reformieren im Sinne von «sich überdenken» und «neu aufstellen». Insofern könnte dieses Heft ebenso gut Reflexion oder Aufbruch heissen.